Brexit-Deal auf Messers Schneide
19. Oktober 2019Manche Journalisten in London führten altmodische Strichlisten, andere produzierten auf ihren Laptops Tortendiagramme oder Excel-Tabellen: Den ganzen Freitag über bearbeiteten Boris Johnson Helfer in der konservativen Unterhaus-Fraktion und seine Leutnants aus der Downing Street Abgeordnete aus der rund 60 Köpfe starken Rebellenarmee, die aus rausgeworfenen Konservativen und unabhängigen Abgeordneten besteht. Andere kümmerten sich um Abweichler in der Labour-Party und versuchten sie davon zu überzeugen, dass der Deal des Premierministers besser wäre als ein "No-Deal".
Es wird knapp, sehr knapp
"Es gibt kein besseres Ergebnis" als das, was er aus Brüssel mitgebracht habe, beschwor Boris Johnson am Abend im Interview noch einmal das britische Fernsehpublikum und die Abgeordneten im Unterhaus. Wenn am Samstagabend das Abkommen die Zustimmung des Parlamentes bekommen habe, dann könne man sich endlich mit anderen Dingen beschäftigen und das leidige Thema hinter sich lassen. Mit diesem Argument versucht er schon seit seinem Amtsantritt die öffentliche Meinung auf seine Seite zu ziehen. Und tatsächlich trifft er damit nach Umfragen die Stimmung vieler Briten.
Die Mehrzahl der Abgeordneten im Unterhaus weiß allerdings, dass nach dem Brexit nichts erledigt ist, sondern die Verhandlungen mit der EU erst richtig beginnen. Einige der Frontlinien im Unterhaus sind klar, denn die Opposition aus Labour Party, schottischer SNP und Liberalen wird dagegen stimmen. Boris Johnson, der beim künftigen Verhältnis mit der EU ein bares Minimum an Nähe vorsieht, plane ein Wettrennen nach unten bei den Schutzrechten für Arbeitnehmer, Umwelt oder Verbraucher, so ihr Argument.
Die nordirische DUP - wütend, weil der Premier ihre sakrosankte Einheit mit Großbritannien geopfert hat - will ebenfalls Nein sagen. Boris Johnson wiederum hat rund 260 Loyalisten bei seinen Konservativen, braucht aber 320 Stimmen zur Mehrheit. Will er gewinnen, müssen alle 20 Tory-Abgeordneten, die er aus der Partei geworfen hatte, jetzt für ihn stimmen. Viele haben sich inzwischen zu dem Deal bekannt, andere aber - wie der früher Finanzminister Philip Hammond - wollen nur zustimmen, wenn Johnson weitere Zusicherungen abgibt, er werde keinen harten Brexit durch die Hintertür anstreben.
Droht ein harter Brexit durch die Hintertür?
An dieser Stelle öffnete sich nämlich eine neue Frontlinie zwischen Tory-Hardlinern und gemäßigten Tories. Am Morgen hatte Erz-Brexiteer John Baron im TV-Interview erklärt, er habe Zusagen von Ministern erhalten, dass die Regierung mit einem harten Brexit Ende 2020 die Übergangszeit verlassen werde, wenn es bis dahin kein Handelsabkommen gebe. Jedenfalls habe man nicht die Absicht, die EU um Verlängerung zu bitten. Und nach bisherigen Erfahrungen scheint es fast ausgeschlossen, so schnell ein Handelsabkommen mit Großbritannien abzuschließen, weil es dafür langwierige Detailverhandlungen braucht.
Mit solchen Versprechen eines harten Brexits mit Verzögerung versuchen Minister um Michael Gove die sogenannten "Spartaner" zu ködern, also diejenigen Hardliner, denen Johnsons Deal wegen Nordirland und anderen Kompromissen nicht gefällt. Er braucht alle ihre rund 30 Stimmen, wenn er die Abstimmung gewinnen will. Gleichzeitig aber versprach Johnson am Abend bei der BBC, er strebe auf keinen Fall einen Wettlauf nach unten an.
Mathematik und Verfahrenstricks
Die Regierung ist also unterwegs und erzählt jedem, was er hören möchte. Davon wiederum sind die Moderaten aufgeschreckt, die deswegen jetzt - wie Hammond - Bedenken bekommen. Auf der anderen Seite hatten sich am Freitagabend zehn Labour-Abgeordnete geoutet, die für das Austrittsabkommen der Regierung stimmen wollen. Sie glauben, dieser Deal sei besser als keiner, oder sie vertreten Wahlkreise, die überwiegend für den EU-Austritt gestimmt hatten, und haben deshalb Angst um ihre Wiederwahl. Wenn es sich über Nacht niemand anders überlegt und die Berechnungen stimmen, könnte es bei der Abstimmung zu einer extrem knappen Mehrheit von einer oder zwei Stimmen reichen. Aber sicher ist nichts.
Bis zum letzten Moment liefen auch die Versuche, mit weiteren Abstimmungen Boris Johnsons Zug zum Entgleisen zu bringen. Der konservative Abgeordnete Oliver Letwin, der größte Fuchs unter den Verfahrensexperten im Unterhaus, hat ein Votum auf die Tagesordnung setzen lassen, mit dem er den Premierminister eine erneute Verlängerung aufdrücken will. Er spricht von einer "Versicherung, dass wir nicht durch Probleme mit der nötigen Gesetzgebung noch durch Zufall (ohne Vertrag aus der EU) heraus stürzen". Dafür schien es am Ende des Tages ziemlich viel Zuspruch zu geben; manche Abgeordneten sehen die Chance auf eine weitere Frist, bevor tatsächlich die Tür mit dem Brexit zuschlägt. Die oppositionelle Labour Party will wohl für diesen Antrag stimmen, womit die Chance auf eine erneute Verlängerung und Neuwahlen steigt.
Aus Brüssel bekam diese Fraktion allerdings am Freitag keine Hilfe. Im Gegenteil: Der irische Premier Leo Varadkar sagte am Ende des Gipfeltreffens in Brüssel, man wolle keine weitere Verlängerung, sondern einen geregelten Austritt der Briten. Ähnlich auch der französische Präsident Emmanuel Macron, der seit längerem dafür plädiert, den Brexit endlich hinter sich zu bringen und das vergiftete Thema vom Tisch der EU zu bekommen.
Allerdings würden die Regierungschefs einer Verlängerung dann zustimmen, darüber herrscht Einigkeit, wenn sich das Unterhaus für Neuwahlen oder ein zweites Referendum entscheidet.
Massendemonstration gegen den Brexit
Während drinnen die Abgeordneten über ihr Schicksal entscheiden, wird auf den Straßen Londons eine weitere Großdemonstration gegen den Brexit stattfinden. Die Teilnehmer wollen mit 170 Bussen aus ganz Großbritannien kommen; die Veranstalter rechnen mit rund einer Million Teilnehmern. Der zweite Mann der Labour Party, John McDonnell, wird sprechen und die Forderung der Demonstranten nach einem zweiten Referendum unterstützen. Schauspieler, Schriftsteller und Fernsehstars treten auf oder sie haben die Demo mit Spenden unterstützt. Es könnte möglicherweise das letzte Aufbäumen des kosmopolitischen Großbritanniens vor dem Brexit - und am Ende des Tages zu einer Trauerfeier werden.