Joachim Löw, der Trainer-Dinosaurier
1. April 2020Nun ist Joachim Löw also der Dinosaurier unter den Nationaltrainern. Seit dem 1. April ist der deutsche Coach weltweit der dienstälteste Übungsleiter einer Fußball-Nationalmannschaft. Der bisherige Rekordhalter, Oscar Tabarez, wurde beurlaubt und ist nicht länger Nationaltrainer von Uruguay. Dies geschah allerdings nicht aus sportlichen Gründen: Wegen der weggebrochenen Einnahmen durch die Corona-Pandemie hatte sich Uruguays Fußballverband gezwungen gesehen, alle Trainer zu entlassen. Bis dahin war Tabarez ein halbes Jahr länger im Amt gewesen als Löw.
Und so steht Löw jetzt an der Spitze: 13 Jahre und 264 Tage sind es ganz genau - eine Ewigkeit im modernen Fußball. Viele Kinder und Jugendlichen kennen gar keinen anderen Fußball-Nationaltrainer als Joachim Löw. Dabei sah es zu Beginn überhaupt nicht nach einer Erfolgsgeschichte aus: Joachim Löw war bei Amtsantritt am 1. August 2006 ein Mann der zweiten oder vielleicht sogar dritten Reihe. Als Spieler brachte er es nur auf 52 Bundesligaspiele, als Trainer lief es etwas besser: DFB-Pokalsieger mit dem VfB Stuttgart, österreichischer Meister mit dem FC Tirol Innsbruck - schöne Erfolge, aber nichts, was einen Coach sofort ins Amt des Bundestrainers katapultiert. Doch als Co-Trainer von Jürgen Klinsmann schrieb Löw mit am deutschen Sommermärchen bei der Heim-WM 2006, die man als Dritter abschloss. Und als Klinsmann genug hatte, war Löw als Nachrücker plötzlich Bundestrainer. "Joachim wer?", fragte sich das breite Publikum. Löw gab bald seine Antwort.
Vize-Europameister 2008, WM-Dritter 2010, EM-Halbfinalist 2012 - Löw lieferte konstant Ergebnisse. Insbesondere bei den Turnieren war seine Elf in Form und ließ vor allem noch Potential nach oben erkennen. Der Bundestrainer ließ einen neuen Fußball spielen, inspiriert von den damals dominierenden Spaniern: Viele Ballkontakte, präzise Pässe, mehr Spielkultur als in vergangenen Tagen. Die Krönung: der WM-Titelgewinn von 2014, jene Sternstunde als Löw einfach alles richtig machte. Seine Personal- und Taktikentscheidungen führten die deutsche Mannschaft zum Sieg - und ihn zum Titel FIFA-Trainer des Jahres.
Die große Fußballpause
Seine Position beim DFB scheint seitdem nicht nur gefestigt, sie ist wie in Stein gemeißelt. Während es in den führenden Fußballnationen selten Konstanz gibt (am längsten auf dem Trainerstuhl sitzt dort nach Löw Frankreichs Trainer Didier Deschamps mit sieben Jahren), wurde Löws Vertrag schon vor der desolaten Weltmeisterschaft 2018 in Russland bis Juli 2022 verlängert - und auch danach daran festgehalten. Löw wurde quasi "verbeamtet".
Nun wartet Löw seit knapp fünf Monaten auf das nächste Länderspiel. Die Winterpause wäre eigentlich mit dem Freundschaftsspiel gegen Spanien in der vergangenen Woche zu Ende gegangen. Es wäre auch der Startschuss für den Endspurt vor der EM gewesen. Nun herrscht Stillstand statt Fußball - und in der Coronakrise gab sich Löw in einer Videokonferenz ungewohnt gesellschaftskritisch, fast schon fatalistisch, als er sagte: "Die Erde scheint sich ein bisschen zu wehren gegen den Menschen. Der Fußball hat eine große Bedeutung, aber es gibt Dinge, die sind wichtiger." Der 60-Jährige erntete dafür nicht nur Zustimmung - auch Kritik regte sich.
Schlechter Stil, falsche Taktik und Personalwahl
In der Kritik stand Löw oft. Nicht nur nach dem vercoachten EM-Halbfinale gegen Italien 2012. Im WM-Turnier von 2014 gab es Unverständnis für die Rolle Philipp Lahms, den Löw unbedingt auf der Sechser-Position sehen wolle und der erst nach der Verletzung von Shkodran Mustafi wieder (mit großem Erfolg) in die Abwehr rückte. Am lautesten wurden seine Kritiker aber 2018: Löws Konzept bei der WM in Russland ging überhaupt nicht auf. Nur mit neuen Spielern ginge es nicht, hieß es damals von Löw. Dabei hatte Deutschland im Jahr zuvor mit eben jenen jungen Spielern zum ersten Mal den Confed-Cup gewonnen. Während junge Talente wie Leroy Sané zuschauen mussten, flog die DFB-Elf verdient schon in der Vorrunde aus dem Turnier.
Falsches Personal? Schlechte Mischung? Löw wurde oft vorgeworfen, nicht nach Leistung aufzustellen, stur und zu lange an etablierten Spielern festzuhalten und nicht allzu glücklich mit Nicht-Nominierungen von vermeintlich zu kritischen Spielern umzugehen. So sorgten in der Vergangenheit die Entwicklungen um Kevin Kuranyi oder Mesut Özil für Missstimmung. Zudem fehlte Löw beim erzwungenen Abschied der drei Weltmeister Mats Hummels, Jérôme Boateng und Thomas Müller das nötige Fingerspitzengefühl. Löw hatte bis dahin immer von einem starken deutschen Bayern-Block profitiert.
Obwohl nur ein Spiel 2019 verloren ging, befindet sich die Mannschaft in einem personellen Umbruch. Nach der katastrophalen Leistung bei der WM 2018 sehnten sich Deutschlands Fans nach frischem Wind und jemanden, der die Mannschaft weiterentwickelt - mit gestandenen und jungen Spielern. Ob Löw dazu in der Lage ist, ist offen. Der Trainer aus dem Schwarzwald steht in diesen bewegten Zeiten für Beständigkeit. Und plötzlich hat er mehr Zeit für den Umbau: Die EM ist um ein Jahr verschoben worden, damit ändern sich auch die Voraussetzungen für alle Teams. Löws Nationaltrainer-Rekordzeit wird somit durch die Coronakrise quasi automatisch verlängert - Ende offen.