Politische Kernschmelze
30. März 2011Eine Apotheke irgendwo in Deutschland. Es ist Heuschnupfenzeit; die milden Temperaturen in diesem März 2011 lassen die Frühblüher ordentlich Pollen produzieren. Die Kunden kaufen Nasenspray und Erkältungsmittel. Doch nicht nur das. Besonders gefragt sind zur Zeit Jodtabletten. Da muss der Apotheker erst einmal gucken, ob überhaupt noch welche da sind, denn die Nachfrage war in den vergangenen Tagen enorm: Denn mit der Angst vor den radioaktiven Strahlen aus Fukushima kommen typisch deutsche Grundsätze zum Vorschein: Was man hat, das hat man, und vorbeugen ist besser als nachsehen. Man kann ja nie wissen, ob man das Jod nicht vielleicht bald braucht. Also sind die Jodbestände innerhalb von wenigen Tagen aus den Apotheken verschwunden - ausverkauft.
Dabei versuchen Apotheker und Ärzte mit einer Engelsgeduld den Leuten zu erklären, dass das mit dem Strahlenschutz durch Jod nicht ganz so einfach ist. Normale Präparate haben viel zu wenig Wirkstoffe. Man müsste also 500 normal dosierte Jodtabletten einnehmen, um die Schilddrüse vor radioaktiver Verstrahlung zu schützen. Wirklich helfen könnten da nur hochdosierte Präparate, doch die sind nicht ungefährlich. Sie können schwere Schilddrüsenstörungen auslösen, dazu noch Allergien, Fieber, Durchfall und Erbrechen. Der Bundesverband deutscher Apotheker rät deswegen dringend von einer voreiligen Einnahme hochdosierter Jodpräparate ab: "Die Einnahme sollte nur nach Anordnung von Ärzten oder Behörden stattfinden."
Aber damit nicht genug. Der Nuklearmediziner Prof. Harald Schilcher erklärt den einzig sinnvollen Umgang mit einem hochdosierten Jodpräparat: "Das muss genau zum richtigen Zeitpunkt genommen werden. Wenn man es drei Tage vorher vorsorglich nimmt, dann nutzt es nichts. Ebensowenig nutzt es, wenn es einen Tag danach genommen wird." Man müsse, so der Professor, die Tabletten genau dann einnehmen, wenn man mit den Strahlen in Berührung kommt, ansonsten habe das Jod überhaupt keine Wirkung.
Geigerzähler sind Mangelware
So sehr Politiker, Wissenschaftler und andere Experten auch versuchen, die kollektive Angst vor der Wolke aus dem fernen Japan einzudämmen - der Deutsche an sich ist vorsichtig und möchte seine Umwelt auf Herz und Nieren untersuchen. Und so haben viele Leute neben den Jodtabletten noch eine weitere Neuanschaffung im Haushalt: Einen Geigerzähler. Er kann radioaktive Strahlung messen. Einzusetzen ist er überall: im Boden, an Gegenständen, auch an Menschen. Falls der ängstliche Deutsche also einem Japaner (aus Fukushima??) begegnet, kann er neben dem Mundschutz noch den Geigerzähler einsetzen, um den japanischen Gast zu vermessen und ihm dann, wenn er nicht kontaminiert ist, zur Begrüßung die Hand zu schütteln.
Auch bedenkliche Speisen können mit dem Geigerzähler auf Radioaktivität untersucht werden. So kann der unsichere Bürger im japanischen Restaurant testen, ob sein Essen unbedenklich ist. Doch auch hier versuchen Experten, den Ball flach zu halten. So verspricht der Ernährungsbiologe Dr. Hansruedi Glatt vom deutschen Institut für Erährungsforschung, dass man nach wie vor in Deutschland Sushi essen kann: "Der meiste Fisch kommt natürlich nicht aus Japan. Das ist unbedenklich. Für uns sind das geringe Mengen von Fisch, die aus der Gegend dort kommen, und das lässt sich leicht überwachen."
"Abschalten"
Jod und Geigerzähler gegen die Strahlenangst - man sollte hier nicht direkt einen ernsthaften neuen Trend in Deutschland sehen. Was aber die Menschen durch alle Gesellschaftsschichten wirklich umtreibt, ist die unmittelbare, die mögliche Bedrohung durch die deutschen Atomkraftwerke. Und die Angst davor hat bei deutschen Politikern bis in höchste Regierungsämter ein Umdenken ausgelöst, das so schnell und in dieser Form noch nie dagewesen ist.
Während sich die CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel als neue Lichtgestalt der Anti-Atomkraft-Bewegung profilieren will, zieht auch ihr Vizekanzler und Außenminister Guido Westerwelle nach: Er will seine FDP zur atomfreien Zone machen. Schnell sollen die acht ältesten Meiler in Deutschland vom Netz gehen und am Besten auch bleiben. Vor einem halben Jahr kamen aus den Regierungsreihen bekanntlich noch ganz andere Töne.
Die oft gescholtenen Grünen heimsen 31 Jahre nach ihrer Gründung endlich die Lorbeeren ein und stellen den ersten grünen Ministerpräsidenten. Der hat schon immer für den Atomausstig gekämpft. Nach dem Motto: "Anstatt lautstark zu krakeelen geht der Aufgebrachte wählen" hat der Wutbürger im Wahllokal den Grünen einen nie dagewesenen Höhenflug beschert.
Mit Kind und Kegel gegen Kernkraft
Ein bisschen krakeelen Wutbürger und Wutbürgerinnen dennoch - wenn sie zusammen mit 250 000 Gleichgesinnten zu Anti-Atomkraft-Demos gehen. Mitgebracht haben sie nicht nur Fahnen, Luftballons, Sticker und Transparente, sondern auch ihre Kinder. Die können nun endlich auch mitmachen bei den Veranstaltungen, die sie nur aus den Fotoalben ihrer Eltern kennen. Die Bilder, die in den 80er Jahren in Brokdorf oder Wackersleben entstanden sind, gleichen fast den heutigen. Und auch der Button, der lange im Keller verstaubt und verrostet ist, wird wieder hervorgekramt. Wenn die alten Flaggen verschimmelt sind, werden neue im Internet bestellt.
Bei manchen Anbietern sind die Anti-Atom-Devotionalien sogar zeitweise vergriffen. Und wieder werden die alten Lieder gesungen: "Wehrt euch, leistet Widerstand - gegen das Atomkraftwerk im Land!" - und wieder wird friedlich getrommelt und gepfiffen. Die Kinder trommeln freudig mit und wissen sogar, warum - ihre Eltern haben ganze Arbeit geleistet: "Wir sind gegen Atomkraft, weil wir verstrahlt werden könnten. Und weil es genug erneuerbare Energien gibt, die man nutzen kann."
Das große Unglück, das durch Erdbeben, Tsunami und Atomkatastrophe über die Menschen in Japan gekommen ist, hat bei all seinen schrecklichen Folgen dort hierzulande etwas erreicht, was bisherige Katastrophen und Kriege nicht erreichen konnten: Die Menschen schauen nicht mehr nur hilfllos auf Fernsehbilder und Liveticker und überweisen in ihrer Betroffenheit Spenden. Es findet ein Umdenken statt, das in seiner Tragweite nicht mehr aufzuhalten ist. Dagegen sind ausverkaufte Geigerzähler und Jodtabletten nur eine vorübergehende Erscheinung.
Autorin: Silke Wünsch
Redaktion: Hartmut Lüning