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Jährlich sechs Zeilen

Patrick Tippelt, Bangkok4. April 2005

Nicht Bücher, sondern Comics sind in Thailand beliebt. Der Premierminister will die Jugend des Landes an Bücher gewöhnen und gibt ihr schicke Bibliotheken, aber die Kinder lassen sich nicht gern für dumm verkaufen.

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Die Türen öffnen sich erst in einer Stunde, aber das Bild gleicht deutschen Sommerschlussverkäufen: Geduldig formieren die Massen Menschenschlangen, zwei Wochen lang. Niemandem scheint die Morgenhitze etwas auszumachen. Als ob es etwas umsonst gäbe bei der morgen zu Ende gehenden, halbjährlichen Bangkoker Buchmesse.

Über 300 Verlage stellten im klimatisierten Königin-Sirikit-Kongresszentrum der Öffentlichkeit alles vor, was Buchstaben hat. Aber die Massen stürmten die Messe derart, dass zeitweise die Klimaanlagen versagten. Für Schwächelnde standen die Ambulanzen bereit. Manche Stände konnten schon drei Tage nach Beginn der Messe sagen: "Alles ausverkauft." Selbst ein Stand mit deutschen Titeln wurde gerne beschaut – wenn auch dort fast niemand etwas erstand.

Hauptsache billig!

Die Bangkoker Buchmesse mit ähnlichen Veranstaltungen zu vergleichen, etwa mit der Leipziger oder gar der Frankfurter, wäre allerdings ein gewaltiger Fehlschluss. Nicht dass das Freizeitvergnügen Nummer Eins der Thais das Lesen wäre – die Horden rannten die Messe ein, weil alle Titel mit heftigen Rabatten versehen waren, bis zu 80 Prozent. Die Menschen kauften, weil es billig ist. Sonderangebote ziehen immer in Thailand, ob die Ware Ramschcomputer, Kurztrips nach Singapur oder eben Bücher ist.

Manch intellektueller Thai weiss von einer Studie zu berichten, derzufolge der Durchschnittsbürger Thailands sechs Zeilen jährlich verschlingt. Diese Statistik kann man nirgendwo finden, aber die Zahl brennt sich einem sofort ins Gehirn, und da macht es auch nichts, wenn niemand weiss, ob diese sechs Zeilen Zeitungen und Magazine einschliessen, aber der Philanthrop sagt sich gern, dass es nur wirkliche Bücher sind.

Die nationale Leseunlust kann ihren durchschlagenden Erfolg nicht mit einem Mangel an Publikationen begründen: Immerhin erschienen im vergangenen Jahr mehr als 11.000 Titel. An der Spitze der Bestsellerliste Thailands halten sich seit Jahren Kinderbücher, gefolgt von Schulliteratur, und Business-Ratgebern –empfiehlt der thailändische Premierminister seinen Untertanen eine Business-Bibel, kaufen die Bürger sie auch brav en masse.

Friedhöfe für Bücher

Literatur dagegen ist out in Thailand. Selbst die Handvoll anerkannter literarisches Genies, die Thailand vorzuweisen hat, könnten nie nur vom Schreiben leben. Wenn ein Autor 5.000 Titel von einem Roman verkauft hat, gilt es schon als überwältigender Erfolg. Auch wenn ein Schriftsteller im Ausland seine Kunst verkaufen kann, heisst dies noch lange nicht, dass ihn jemand in seinem Heimatand kennt. Der 26-jährige Rattawut Lapcharoensat, dessen Kurzgeschichtensammlung in den USA für Furore sorgt und der dieses Jahr in acht weitere Sprachen übersetzt wird, ist ein Niemand in Thailand.

Hält man seine Augen offen in den öffentlichen Nahverkehrsmitteln, sieht man vereinzelte Leseratten, den Mund halb geöffnet, vertieft in die Romane Grishams und Browns. Aber die Massen vergnügen sich mit Comics, mit Thai-Versionen japanischer Mangas, oft gewaltverherrlichend, aber immer recht stupide. Und von der Sucht nach Bildergeschichten sind nicht nur die unter 20-jährigen befallen: Auch die sonst toughe Geschäftsführerin und der ältere Herr mit seinen zwei Enkeln vertieft sich gerne in die Heftchen.

Die zahllosen Comicläden Bangkoks verzeichnen hohe Gewinne mit den billig produzierten Fantasietiteln, doch Büchereien sind meist ausgezeichnet durch leere Gänge. Nur diejenigen, die Sprachen studieren, quälen sich gezwungen durch so manches Werk der Weltliteratur. Ein Blick in die Bücherei des hiesigen Goethe-Instituts reicht aus: die meist veralteten Bücher führen ein grausam stilles Leben, während die paar Seelen, die sich hierher verirrt haben, sich an den Computern – mit kostenlosem Internetzugang – vergnügen.

Die Zukunft des Lesens

Daher wird der neue Thailand-Wissenspark als Hoffnung und Rettung für die nicht-lesende Jugend betrachtet. Über eine Million Euro teuer und oft verglichen mit dem Pariser Pompidou-Zentrum, soll die "lebende" Bibliothek Kinder und Teenager an Bücher binden. Seitdem Thaksin Shinawatra den Wissenspark vor fünf Monaten eröffnete, sind 12.000 Minderjährige Mitglied. Und niemand würde wagen zu behaupten, dies läge nur an den schicken Maschinen, die den Junioren Reisen in virtuelle Realitäten ermöglichen, oder an den Trickfilmen, die hier pausenlos laufen, oder an an den Computern, an denen die Kleinen sich an Online-Spielen versuchen. Der Erfolg dieser Bibliothek muss wohl an den rund 6.000 Büchern liegen, die den wissbegierigen Jugendlichen zur Verfügung stehen.