Ist das gerecht? Über die Gratismentalität
1. Oktober 2022Wie denken wir soziale Gerechtigkeit? Ein Beispiel, an dem sich für mich die Frage aktuell eröffnet, ist die Debatte um den Zugang zur öffentlichen Mobilität. Die Diskussion um die Weiterfinanzierung eines 9-Euro-Tickets, das vielen Menschen eben diesen Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln bieten würde, hat bisher keine befriedigende Lösung erzielt.
Die Möglichkeit, öffentliche Verkehrsmittel preisgünstig nutzen zu können, ist einer von vielen Bausteinen in einem System, das Menschen Teilhabe ermöglicht. Wie gut ich mich bewegen kann, wie mobil ich sein kann, um eine Arbeitsstelle, Freund*innen oder Familie erreichen zu können, hat einen wesentlichen Anteil daran, wie gut sich mein Alltag organisieren lässt, mehr noch, was mir überhaupt möglich ist. Wie gut Menschen Orte erreichen können, ihre Umgebung erkunden und Distanzen überwinden können, empfinde ich als einen wichtigen Marker dafür, wie sozial-gerecht eine Gesellschaft ist. Dennoch, der Fortführung des 9-Euro-Tickets wurde erstmal eine Absage erteilt. Dabei wurde unter anderem der Verweis auf eine mit dem Ticket einhergehende „Gratismentalität“ angeführt und das Argument, nicht alle könnten von einem günstigen Ticket gleichermaßen profitieren. Ist das wirklich die Art von Ungerechtigkeit, über die wir diskutieren wollen? An vielen Stellen finanzieren wir als Gemeinschaft Dinge, von denen wir scheinbar nicht direkt profitieren, die aber wichtig für die Allgemeinheit sind und so einen notwendigen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit leisten.
„Aber du hast sie genauso behandelt wie uns“ (Mt 20,12)
Mir kommt da das bekannte Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg in den Sinn (Mt 20,1-16). Es beantwortet die Frage danach, was gerecht ist, so: Die Arbeitenden im Weinberg werden nach unterschiedlich lang getaner Arbeit von einem Grundbesitzer mit dem gleichen Lohn bedacht. Es ist eine andere Idee von Gerechtigkeit, die hier gezeichnet wird. Diese Gerechtigkeit geht der Frage nach: Was brauchst du? Alle erhalten den gleichen, mit dem Weinbergbesitzer vereinbarten, Lohn. Niemandem wird etwas genommen, dadurch dass der andere das Gleiche bekommt. Aber es fühlt sich für die Arbeiter nicht gerecht an, weil sie unterschiedlich lang und hart in der Hitze des Tages gearbeitet haben.
Wie wollen wir als Gesellschaft zusammenleben?
Die im Gleichnis beschriebene Gerechtigkeit Gottes bricht mit dem Leistungsgedanken. Diese Gerechtigkeit bedeutet, freimütig zu geben. Menschen werden mit dem bedacht, was sie brauchen. Dadurch verändert sich ihr Leben. Diese Gerechtigkeit richtet die Menschen auf, wird folglich zur Chancenmacherin und Ermöglicherin. Was würde das für die Diskussion um Mobilität bedeuten?
Gleichnisse sind dafür gedacht, angelerntes Denken zu unterbrechen und uns herauszufordern. Oft ist damit die Frage verbunden: Wie wollen wir als Gesellschaft zusammenleben? Es geht mir nicht darum, eine Utopie zu denken, die über unendliche Ressourcen verfügt, aus denen alle schöpfen können. Das Gleichnis hilft mir persönlich, meine eigene Perspektive auf das Thema Gerechtigkeit zu weiten. Es wäre doch ein Anfang, viel öfter zu fragen: „Was brauchst du? Wie schaffen wir denn deine und meine Zukunft?“ Statt sich einem Gerechtigkeitssinn hinzugeben, mit der Vorgabe, dass der, der vermeintlich mehr leistet, mehr bekommt. Menschen zu geben, was sie zum Leben brauchen, ihre Grundbedürfnisse zu stillen, bedeutet, ihre Würde und ihren Wert anzuerkennen. Dies sollte unabhängig von Leistung gelten, besonders, wenn nicht definiert ist, welche Leistung uns wie viel wert ist. Schließlich sind es insbesondere die Menschen, die sich in hohem Maße für unsere Gesellschaft einsetzen, die oft einen Lohn erhalten, der nicht zum Leben ausreicht. Ich denke an Menschen, die in der Kranken- und Altenpflege tätig sind und Alleinerziehende, die unbezahlte Care-Arbeit leisten. In diesen Fällen hat ein 9-Euro Ticket nichts mit einer „Gratismentalität“ zu tun, sondern bedeutet echte Entlastung. Wie viel 9 Euro wert sind, ist schließlich eine Frage dessen, was ich zur Verfügung habe.
Die unterschiedlichen Auffassungen und Standpunkte zur Frage danach, wie Gerechtigkeit funktioniert und welches Modell das richtige ist, haben ihre Berechtigung. Und es muss immer wieder ausgehandelt werden, was als gerecht empfunden wird. Aber die Frage danach, wem und in welchem Maße eine Gesellschaft einen fairen Zugang zu einer klimagerechten Mobilität verschaffen will, gehört für mich nicht in die Kategorie: streitbar.
Zur Autorin:
Melina Sieker ist Referentin für Schulpastoral und ist tätig als Mentorin für Studierende der Katholischen Theologie der Universität Paderborn. Außerdem ist sie tätig als Referentin für den Prozess Diözesaner Weg 2030+ im Erzbistum Paderborn.