Israel: Die Last der sexualisierten Gewalt vom 7. Oktober
22. Dezember 2023Viele der Wunden klaffen noch, die von der militant-islamistischen Hamas bei ihrem Terrorangriff auf Israel am 7. Oktober geschlagen wurden. Und nicht nur die Überlebenden und Angehörigen der Opfer ringen darum, sie zu heilen. Doch eine Opfergruppe fühlt sich von der Gesellschaft im Stich gelassen - die Opfer sexualisierter Gewalt. Während Morde an Kindern, die Schändung von Leichen und andere Gräueltaten im israelischen Fernsehen explizit erwähnt wurden, blieb es im Falle von Vergewaltigungen meist bei Andeutungen.
"Die öffentliche Debatte ist stark davon bestimmt, dass sexualisierte Gewalt in Israel immer noch ein Tabu ist. Die Regierung weiß das und verhält sich entsprechend", sagt die israelische Frauenrechtlerin Yael Sherer der DW. Die mangelnde Bereitschaft der Behörden, die sexualisierte Gewalt während der Angriffe vom 7. Oktober zu benennen, habe sogar dazu beigetragen, Gerüchte in den sozialen Medien zu schüren.
"Sie berühren Frauen, und alle wissen es"
Selbst von die von der Terrorgruppe Hamas freigelassenen Geiseln haben die Taten nicht klar benannt, sondern mit anderen Worten deutlich gemacht, dass es sie gab: "Sie berühren Frauen", sagte eine ehemalige Geisel bei einem Treffen mit der israelischen Regierung, "und jeder weiß es." Im Hebräischen wird "berühren" in diesem Zusammenhang als "sexualisierte Gewalt" verstanden. Ein Paradebeispiel für offizielle Anspielungen gab Armeechef Herzi Halevi, als er Anfang Dezember sagte: "Wir machen uns Sorgen um unsere männlichen und weiblichen Geiseln im Gazastreifen und wir wissen auch, warum". Und es war klar, was mit dem "Warum" gemeint war.
Beamte und Medien haben erklärt, sie zögerten aus Sorge um die Privatsphäre der Opfer, die sexualisierte Gewalt während der Angriffe zu benennen. "Es gab die Befürchtung, dass Israel als konservative Gesellschaft nicht in der Lage sein würde, damit umzugehen", sagt Sherer. "Dass es zu anschaulich ist, dass es unangemessen ist, dass es die Opfer und ihre Familien beschämen würde."
In Israel geraten Menschen, die eine Vergewaltigung anzeigen, nicht selten selbst unter Verdacht. Doch im Falle des 7. Oktobers seien die üblichen Unterstellungen wie "Sie hat es doch gewollt, sie hat ihn verführt" gar nicht erst aufgekommen, sagt Sherer. Auch männlichen Vergewaltigungsopfern sei der Vorwurf heimlicher Homosexualität erspart geblieben.
Das habe den Opfern einerseits geholfen, andererseits seien sie stattdessen zu einer Art nationaler Symbole geworden. Und das könne es erschweren, die erlebte Gewalt zu verarbeiten, meint Sherer: "Gerade, weil sich die Leute für deinen Fall interessieren, erwarten sie, dass du dich mit ihnen befasst, ihre Fragen beantwortest, dir Zeit für sie nimmst."
Beschwichtigung rechter Wählergruppen
Den offensichtlichen Unwillen der Regierung, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, führt Sherer darauf zurück, dass sie die konservativen Wähler nicht verärgern will, mit deren Stimmen sie an die Macht gelangt ist. "Wir sprechen hier von Wählern, die teilweise nicht bereit sind, auch nur Fotos von Frauen anzusehen", erklärt Sherer.
Viele ultra-orthodoxe Medien weigern sich, überhaupt Frauen abzubilden, und in mindestens einem Fall wurden Fotos weiblicher Geiseln, die in Gaza festgehalten wurden, vom Schwarzen Brett einer konservativen Gemeinde entfernt.
Die israelische Juristin Ruth Halperin-Kaddari ist akademische Leiterin des Rackman-Zentrums zur Förderung des Status von Frauen an der Bar-Ilan-Universität. Sie sagte der DW, die rechtsgerichtete Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu habe bereits vor den Anschlägen vom 7. Oktober überlegt, getrennte gesetzliche Regelungen für sexualisierte Gewalt einzuführen. Und dabei sollte unterschieden werden, ob die Täter Israelis oder Palästinenser sind.
Im Juli hat die Regierung ein Gesetz verabschiedet, das härtere Strafen für sexualisierte Gewalt in "nationalistischem" Kontext vorsieht als bei häuslicher Gewalt - ein Schritt, den der Verband der Vergewaltigungs-Krisenzentren in Israel kritisierte. "Sexualisierte Gewalt im Zusammenhang mit einem Konflikt wird von den Behörden vollkommen anders behandelt", sagt Halperin-Kaddari.
"Schwache" Reaktion der Vereinten Nationen
Israelische Feministinnen haben sich dafür eingesetzt, das internationale Bewusstsein für die sexualisierte Gewalt zu schärfen, die Kämpfer der Hamas im Zusammenhang mit dem 7. Oktober verübt haben. Vielen Israelis sind die internationalen Solidaritätsbekundungen darauf zu verhalten. Die Reaktion der Vereinten Nationen etwa nannte Sherer "schwach".
In einer Erklärung vom 27. Oktober verurteilt der UN-Ausschuss für die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) "die eskalierende Gewalt im Nahen Osten, die Tausende von Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, getötet hat". Doch trotz des Titels "Die Sache des Friedens ist die Sache der Frauen" wird weder die sexualisierte Gewalt der Hamas, noch die Terrorgruppe selbst ausdrücklich erwähnt. Es heißt lediglich: "Der Ausschuss ruft alle Parteien auf, sich systematisch mit der geschlechtsspezifischen Dimension des Konflikts zu befassen."
Halperin-Kaddari, die selbst zwölf Jahre lang für CEDAW tätig war, sagte, sie habe die Reaktion der UN auf die sexualisierten Gewalttaten der Hamas mit Befremden zur Kenntnis genommen: "Ich konnte nicht glauben, dass die Erklärung nichts Explizites enthielt: nicht 'sexualisierte Gewalt', nicht 'Israel', nicht 'Hamas'. Das war der größte Schlag für mich."
Immerhin: UN Women hat eine Erklärung veröffentlicht, in der die Hamas ausdrücklich für ihre "brutalen Angriffe" verurteilt wurde. Doch auch dafür brauchte es knapp zwei Monate.