Akute Gefahr: Islamisten in Deutschland
28. Juni 2021Drei Tote, sieben Verletzte, fünf davon lebensgefährlich. Das Attentat eines abgelehnten Asylbewerbers aus Somalia in Würzburg weckt bei vielen Erinnerungen an den Anschlag des Islamisten Anis Amri auf einen Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember 2016. Damals starben zwölf Menschen und mehr als 60 wurden verletzt. Allerdings ist Vorsicht geboten, wenn es um die Einordnung der Tat in Bayern geht. Denn noch wird ermittelt. Sicher ist bislang nur, dass der Mann, der mit einem Messer auf seine Opfer einstach, in psychiatrischer Behandlung war.
Hinweise auf einen islamistischen Hintergrund gibt es zwar, aber sie werden eben noch geprüft. Doch unabhängig davon, ob sie sich am Ende bestätigen oder widerlegt werden - die Debatte über diese Art religiös motivierter Gewalttaten ist wieder voll im Gange. Dass es einige Jahre eher ruhig geblieben ist, hat mehrere Ursachen: Statistisch gesehen war diese Form extremistischer Anschläge zuletzt tatsächlich rückläufig. Zudem standen 2019/2020 andere Mordanschläge im Fokus: auf Menschen mit ausländischen Wurzeln in Hanau, auf Juden in Halle (Sachsen-Anhalt) und auf den Politiker Walter Lübcke.
Als der deutsche Innenminister Horst Seehofer Mitte Juni den Verfassungsschutzbericht 2020 präsentierte, bezeichnete er den Rechtsextremismus unter Verweis auf die Fallzahlen und gesellschaftliche Dimension als "dickes Problem". Er warnte aber auch vor den Gefahren des Linksextremismus - und des Islamismus. Dessen Gefährdungspotenzial ist im aktuellen Bericht des Inlandsgeheimdienstes auf fast 70 Seiten skizziert. Ein Hinweis darauf, wie groß es ist.
Verfassungsschutz: Anschläge von Einzeltätern "jederzeit denkbar"
Konkret wurden 2020 im Bereich "religiöse Ideologie" 409 Straftaten registriert. Ein Plus von 13 Prozent gegenüber dem Vorjahr (362). Die allermeisten gehen auf das Konto von Islamisten, aktuell sind es über 92 Prozent. Bei den Gewalttaten bis hin zu Mord weist die Statistik jedoch ein Minus von fast 20 Prozent aus: 33 gegenüber 41. Zahlen allein sind im Zweifelsfall aber nur bedingt aussagekräftig. In der Analyse des Verfassungsschutzes sieht die Gefährdungslage so aus: "Die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus in Deutschland war auch im Jahr 2020 auf einem hohen Niveau."
Komplexe und multiple Anschläge, aus dem Ausland gesteuert, hätten in Deutschland bislang zwar nicht stattgefunden, "sind aber jederzeit denkbar". Und dann folgt ein Satz, der zum Anschlag in Würzburg passen könnte - sollte sich der Verdacht auf einen islamistischen Hintergrund erhärten: "Die meisten Anschläge in den vergangenen Jahren waren Einzeltäteranschläge, die für die Ziele terroristischer Gruppierungen ebenso bedeutsam sind, da sie auch eine große Wirkung entfalten können."
Inspiration durch den Islamischen Staat (IS)
Wie es zu solchen Szenarien kommen könnte oder in der Vergangenheit schon konkret gekommen ist, auch darüber finden sich Einschätzungen: Inspiriert durch gewaltorientierte Propaganda oder durch den Kontakt zu einer Terrororganisation wie dem "Islamischen Staat" (IS) richteten sich Einzeltäter mit leicht zu beschaffenden Tatmitteln überwiegend gegen einfach anzugreifende, "weiche" Ziele.
Als Beispiel aus dem Jahr 2020 wird der Messerangriff im Oktober Dresden (Sachsen) auf zwei Touristen erwähnt. Eines der Opfer starb. Der zunächst flüchtige mutmaßliche Täter konnte später gefasst werden. "Ein islamistisches Tatmotiv gilt als wahrscheinlich", heißt es im Bericht des Verfassungsschutzes. Ebenfalls um einen mutmaßlichen Einzeltäter aus diesem Milieu soll es sich bei dem Autofahrer auf der Berliner Stadtautobahn handeln, der im August mit beabsichtigten Kollisionen sechs Menschen verletzte. Es sei von einer islamistischen Tatmotivation auszugehen, "die durch eine psychische Beeinträchtigung des Tatverdächtigen begünstigt wurde".
Die mit Abstand meisten Gefährder sind Islamisten
Blickt man auf die Zahl der sogenannten Gefährder, denen Sicherheitsbehörden jederzeit Anschläge zutrauen, wird das Bedrohungspotenzial durch religiös motivierte Personen besonders deutlich: Bei den 697 entsprechend eingestuften Männern und Frauen wird in 596 Fällen eine religiöse Motivation vermutet. Ganz überwiegend ist damit Islamismus gemeint. Die Gefährder-Zahlen stammen aus der Antwort der Bundesregierung von Ende Februar auf eine Anfrage der Freien Demokraten (FDP) im Deutschen Bundestag.
Auch ein Blick über die Grenzen hilft Deutschland, um das Risiko von Anschlägen einschätzen zu können. Im Bericht des Verfassungsschutzes wird auf die Anschläge in Frankreich und Österreich verwiesen. Sie wirkten sich auf die "Lagedynamik in Deutschland" aus. So kam es Ende September in Paris vor den ehemaligen Redaktionsräumen des Satiremagazins "Charlie Hebdo" zu einem Messerangriff auf zwei Passanten.
Nach dem Attentat in Wien wurde auch in Deutschland ermittelt
Mitte Oktober wurde der Geschichtslehrer Samuel Paty in einem Pariser Vorort mitten auf der Straße enthauptet, weil er in seinem Unterricht Mohammed-Karikaturen gezeigt hatte. Wenige Wochen danach erstach ein mutmaßlicher Islamist drei Besucher einer Kathedrale in Nizza. Hintergrund dieser Taten war anscheinend die wieder aufgeflammte Diskussion um die Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen. "Charlie Hebdo" hatte sie anlässlich des Prozessbeginns gegen mutmaßliche Helfer der Attentäter vom Januar 2015 erneut veröffentlicht. Damals hatten Islamisten die Redaktionsräume gestürmt und zwölf Menschen erschossen.
Auch das Attentat in Wien im November könnte Nachahmer in Deutschland zu ähnlichen Taten ermuntern. In der Hauptstadt Österreichs erschoss der mutmaßliche Täter in der Innenstadt vier Menschen und verletzte mehr als 20 zum Teil schwer. Auf der Suche nach Hintermännern wurde auch in Deutschland ermittelt. Fazit des Verfassungsschutzes: "Nachahmungs- beziehungsweise Resonanztaten auch in Deutschland, insbesondere durch inspirierte Einzeltäter, sind nicht auszuschließen."
Rückkehrer aus Kriegsgebieten sind eine "besondere Herausforderung"
Und noch ein weiteres Problem bereitet den deutschen Sicherheitsbehörden weiterhin große Sorgen: Von den seit 2012 fast 1100 in die Kriegsgebiete in Syrien und Irak gereisten Islamisten soll sich etwa ein Drittel wieder in Deutschland befinden. Einige wurden nach ihrer Rückkehr zu Gefängnisstrafen verurteilt. Der Umgang mit solchen Islamisten in deutschen Haftanstalten stelle ebenso wie nach ihrer Haftentlassung eine "besondere Herausforderung" für Justiz- und Sicherheitsbehörden dar.