Wie groß war das Desaster in Afghanistan?
7. November 2021Ungewöhnliches tat sich Anfang November in einem Universitätsgebäude im Frankfurter Westen: Polizeiwagen vor der Tür; am Eingang werden Taschen und Ausweise kontrolliert; drinnen im Vortragssaal fallen Personenschützer der Polizei auf mit Knopf im Ohr - und ein hochgewachsener Mann in der ersten Reihe mit Kurzhaarschnitt und in Uniform. Einer der ranghöchsten Bundeswehrsoldaten ist zum Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam, FFGI, gekommen: Markus Laubenthal, stellvertretender Generalinspekteur der Bundeswehr.
Grund ist eine Konferenz. "Das Afghanistan-Desaster" ist sie provokant überschrieben und: "Lehre für die Zukunft?". Militär, Wissenschaft, Betroffene finden ein Forum zum Austausch - einem notwendigen Austausch, wie mehrere Redner betonen. Denn die Verunsicherung ist groß. War etwa das Ziel des "Nation-Building" in Afghanistan grundsätzlich zu ambitioniert? Diese Frage stellt der Militär Laubenthal seinen Zuhörern genauso wie sich selbst. Das Kämpfen selbst habe funktioniert, betont der Afghanistan-Veteran. Allerdings sei "Militär immer nur Teil der Lösung, aber nicht die Lösung", gibt sich der Soldat nachdenklich.
Schock und wankendes Selbstverständnis
Dass diesen Sommer die Taliban nach dem Abzug der internationalen Truppen innerhalb weniger Tage die Macht in Afghanistan übernehmen konnten, ohne nennenswerten Widerstand der mit viel ausländischer Hilfe aufgebauten afghanischen Streitkräfte, hat einen Schock ausgelöst. Und was vor allem an den Wurzeln westlichen Selbstverständnisses nagt: Die breit angelegte Strategie eines Staatsaufbaus ist gescheitert.
Warum dieses über zwei Jahrzehnte mit großem Aufwand betriebene Befriedungs-, Wiederaufbau- und Modernisierungsprojekt am Hindukusch in sich zusammenfiel, kaum dass die internationalen Truppen das Land verlassen hatten, wird nicht nur in Frankfurt diskutiert. Viele Konferenzen thematisieren das deutsche Afghanistan-Engagement. In den vier mit Afghanistan befassten Ministerien werden aufwändige Evaluierungen vorbereitet.
Als Ende August der Bundestag die Evakuierungsmission der Bundeswehr am Flughafen Kabul diskutierte, war von vielen Abgeordneten genau das gefordert worden: Nicht nur den Abzug, nicht nur die Evakuierungsaktion, nicht nur den Sommer 2021 in den Blick zu nehmen. Sondern den gesamten Einsatz der vergangenen fast 20 Jahre. Antworten auf kritische Fragen verlangte damals auch Bundeskanzlerin Angela Merkel. "Denn von den Antworten wird abhängen, welche politischen Ziele wir uns realistischerweise für zukünftige und für aktuelle weitere Einsätze im Ausland setzen dürfen."
"Aufstandsbekämpfung in Afghanistan gelernt"
Davon gibt es derzeit zehn mit insgesamt rund 3000 beteiligten Bundeswehr-Soldaten - die meisten in Mali. Wobei der Afghanistan-Veteran Laubenthaler betont: Was die Bundeswehr an Aufstandsbekämpfung heute könne, habe sie in Afghanistan gelernt - inklusive Verhandlungsführung und Konsultationen mit verschiedenen Volksgruppen.
In Frankfurt werden noch einmal die verschiedenen Phasen des Afghanistan-Einsatzes rekapituliert. Im Kern mutierte eine Anti-Terror-Operation zu einer Regimewechsel-Operation, dann zu einer Stabilisierungsmission inklusive des Versuchs eines Staatsaufbaus. Schon 2004 hatte die NATO ein ehrgeiziges Ziel für ihren Einsatzes am Hindukusch formuliert: "Die Entstehung eines sicheren und stabilen Afghanistans, mit einer auf breiter Basis fußenden, geschlechtersensiblen, multi-ethnischen und vollständig repräsentativen Regierung."
Mission der liberalen Demokratie
"Das folgte einer Überlegung, die Anfang der 2000er Jahre sehr populär war", analysiert Christopher Daase von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, HSFK: "Dass der Westen die Aufgabe hätte, die letzten Bollwerke der Diktatur und der Zurückgebliebenheit zu missionieren und zu liberalen Demokratien zu machen." Das nüchterne Fazit des Politikwissenschaftlers gegenüber der DW: "Afghanistan ist der Abschied von dieser Idee. Es funktioniert nicht, auch nicht mit sehr viel Geld, mit vielen Opfern und 20 Jahren harter Arbeit." Bezeichnenderweise war das Redemanuskript Daases für die FFGI-Konferenz mit "Mission Impossible" überschrieben.
Aber: Man solle nicht auf alle Arten von Stabilisierungsmaßnahmen verzichten, mahnt der Frankfurter Politologe gegenüber der DW. Manchmal könnten Militäreinsätze durchaus notwendig und auch erfolgreich sein. Allerdings nur mit klar definierten Zielen und auch Zwischenzielen, "an denen man feststellen kann, wie weit man in der Zielerreichung ist. Und: Man muss die Bereitschaft haben, wenn man diese Ziele nicht erreicht, auch einen Schlussstrich zu ziehen und die Truppen wieder abzuziehen", so Daases Schlussfolgerung.
Taliban eher mehrheitsfähig?
Einen besonders kritischen Blick auf den Afghanistan-Einsatz warf in Frankfurt Ebrahim Afsah. Der Blick des Völkerrechtlers ist geschärft durch eigene Erfahrungen in über zehn Jahren Arbeit in Afghanistan, in verschiedensten internationalen Organisationen für den Rechts- und Verwaltungsaufbau. Afsahs deprimierendes Resümee angesichts des Durchmarschs der Taliban: Das politische Projekt der Taliban scheine eher eine Mehrheit zu finden als das der politischen Elite in Kabul. Das liberal-demokratische Modell habe keine ausreichend breite Anhängerschaft gefunden gegenüber dem islamischen politischen Projekt.
Trotz aller Anstrengungen, konstatiert der an der Universität Wien islamisches Recht lehrende Afsah, sei es dem Westen nicht gelungen, funktionierende Verwaltungsstrukturen aufzubauen und effektive Kampfeinheiten. Von deren nachhaltiger Finanzierung durch lokale Steuern und Abgaben ganz zu schweigen. "In einem der rückständigsten Gemeinwesen der Welt unsere normativen Präferenzen quasi über Nacht installieren zu wollen, ist von vornherein unmöglich gewesen", urteilt Afsah gegenüber der DW. Weshalb Afsah grundsätzlich dafür plädiert, sich von "bequemen, psychologisch angenehmen Wunschvorstellungen" zu lösen und zu versuchen, "das praktisch Realisierbare zu erreichen". Wobei das praktisch Mögliche nicht besonders schön sein kann.
Für Afghanen oder für Deutschland am Hindukusch?
Für die größte Lebenslüge der Deutschen in Afghanistan hält Afsah die Annahme, man sei am Hindukusch gewesen, um in Afghanistan etwas zu verändern. "Man war in Afghanistan - das hat der damalige Kanzler Schröder sehr deutlich ausgedrückt - um unbedingte Solidarität mit den Amerikanern auszudrücken", so Afghanistan-Experte Afsah. "Denn wir brauchen die Amerikaner für unsere Sicherheit. Wir waren nicht für die Afghanen in Afghanistan, sondern letztlich für uns selbst."
Weniger zugespitzt hatte auch der stellvertretende Generalinspekteur der Bundeswehr selbstkritisch die Frage in den Frankfurter Konferenzraum gestellt: "Wollten wir am Hindukusch Deutschland oder Afghanistan verteidigen?"
Bald nach dieser Frage entschwindet Laubenthal mit seinem Gefolge wieder in Richtung Berliner Verteidigungsministerium. Die von ihm gestellte Frage bleibt ohne Antwort. Aber die Aufarbeitung des Afghanistan Einsatzes hat begonnen.