Iran will zurück zur Normalität
10. Juni 2020In Irans südlicher Provinz Chusestan herrscht brütende Hitze. Bei Temperaturen bis zu 48 Grad im Schatten suchen die Einwohner soweit wie möglich klimatisierte Räume auf, entsprechend eng ist es dort. Und entsprechend leicht kann sich das neue Coronavirus dort verbreiten. Bislang war es in diesem Teil des Iran noch nicht aufgetreten, soweit bekannt. Am vergangenen Sonntag wurden jedoch 829 Infektionen in Chusestan gemeldet.
"Viele von unseren Patienten sind Menschen mit geringem Einkommen. Menschen, die arbeiten müssen, sich aber keine Maske leisten können", sagt Maryam, eine Krankenschwester aus der Provinzhauptstadt Ahwaz im Gespräch mit der DW. "Ständig die Hände zu desinfizieren oder Abstand zu halten sind für viele von ihnen Luxusregeln. Sie wohnen mit ihren Verwandten oder Kollegen eng zusammen."
Rohani wiegelt ab
Um eine Wohnung bis zu 18 Stunden pro Tag zu klimatisieren, braucht man viel Strom. Und der ist teuer. Knapp fünf Millionen Menschen leben in Chusestan, wo sich große Ölfelder befinden. Von einem Lockdown ist hier nichts zu sehen. Die Infektionen dort könnten somit die bedrohliche Lage im ganzen Iran verschlimmern. Denn die Zahl der täglichen registrierten Neuinfektionen bezogen auf das ganze Land ist seit Anfang Mai wieder angestiegen, bis zu einem bisherigen Höchststand von 3600 Anfang Juni. Seitdem werden immer noch mehr als 2000 Neuinfektionen pro Tag verzeichnet, die Kurve steigt laut der Johns-Hopkins-Datenbank an.
Von einer "zweiten oder dritten Welle der Pandemie" könne aber keine Rede sein, versucht Präsident Hassan Rohani zu beruhigen. Am vergangenen Samstag forderte er seine Kritiker und die Medien auf, die Gesellschaft nicht mehr "psychisch zu belasten." Es gehe nun nicht darum, was falsch gelaufen sei und ob die Lockerungen vielleicht zu früh gekommen seien. "Die Leute sollen einfach vorsichtig sein", betonte Rohani in einer Sitzung des Corona-Krisenstabs. "Es bleibt uns nichts anderes übrig, als gleichzeitig mit dem Kampf gegen die Pandemie die Menschen wieder ihrer Arbeit nachgehen zu lassen."
Hohe Dunkelziffer vermutet
Trotz steigender Infiziertenzahlen will seine Regierung also an ihrem Kurs festhalten und weiter Maßnahmen lockern. Laut offiziellen Angaben sind fast 8400 Personen nach einer Infektion mit dem Virus gestorben. Die Zahl der nachweislich Infizierten liegt bei mehr als 173.000. Die Dunkelziffer ist vermutlich weit höher. Sogar das Forschungszentrums des iranischen Parlaments geht davon aus, dass die Zahl der Corona-Toten etwa doppelt so hoch ist. Die Zahl der Infizierten schätzt es auf acht bis zehnmal höher als die Zahlen des Gesundheitsministeriums. Bereits am 14. April warnte das Zentrum in einem Bericht vor einer zweiten Corona-Welle.
Seit Mitte April dürfen Ämter und "risikoarme Geschäfte" wie etwa Einkaufzentren wieder öffnen. Ab Mitte Juni sollen nun Kitas und Kinos öffnen dürfen, eingeschränkt und unter Beachtung von Hygieneauflagen. Konzerte sollen ebenfalls wieder möglich sein. Auch die Moscheen dürfen aufmachen inklusive Freitagsgebet. "Es sieht so aus, als ob die Regierung nun die Strategie der Herdenimmunität verfolgt", sagt der Arzt Hadi Yazdani aus Isfahan im Gespräch mit der DW.
"Ich finde diese Strategie sehr gefährlich. Unsere Bevölkerung ist zwar mit einem Altersdurchschnitt von 31 Jahren relativ jung und unser Gesundheitssystem funktioniert noch gut. Aber für eine Herdenimmunität müssen über 50 Millionen Einwohner gegen das Coronavirus Immunität aufbauen, was immer noch keine Garantie für dauerhaften Schutz wäre."
Vorsichtsmaßnahmen kollidieren mit Realität
Die Menschen müssten vorsichtig sein und aufpassen, so appellierte Gesundheitsminister Said Namaki vergangene Woche an die Bürger. Er beschwerte sich, dass viele das Coronavirus nicht mehr ernst nähmen und sich nicht mehr an die Abstandsregel hielten. Laut einer Umfrage des Marktforschungsinstituts ISPA von Anfang Juni haben weniger als 40 Prozent der Befragten in Teheran Angst vor einer Infektion.
Mahdieh (Name geändert) aus Teheran bestätigt der DW: "Die Angst vor finanziellen Schwierigkeiten ist für viele größer als Angst vor Corona". Mahdieh arbeitet für ein Finanzinstitut. Per Brief wurde sie von ihrem Arbeitgeber aufgefordert, wieder zur Arbeit erscheinen. Sie ist im siebten Monat schwanger, die vergangenen drei Monaten durfte sie von zu Hause arbeiten. Laut iranischem Gesetz muss sie bis zum Tag der Entbindung arbeiten. "Es sind noch sieben Wochen. Ich bin nur froh, dass ich mit meinem eigenen Auto zur Arbeit fahren kann und nicht mit Bus oder Bahn fahren muss".
Damit ist Mahdieh priviligiert. In der dicht besiedelten Hauptstadt sind die meisten auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. Diese sind in der Regel voll besetzt. Wie man sich da an die Abstandsregeln halten soll, ist ein Rätsel. Masken wiederum werden nur empfohlen, Pflicht sind sie nicht.