Inszenierte Trauer "übertüncht die Realität"
7. Januar 2020DW: Das iranische Staatsfernsehen spricht von "mehreren Millionen" Menschen, die in Teheran und anderen iranischen Städten Abschied vom getöteten Oberbefehlshaber der Al-Kuds-Brigaden, General Ghassem Soleimani, genommen haben sollen. Ausländische Medien sprechen zumindest von Hunderttausenden. Ist dieses Maß der Anteilnahme für einen militärischen Anführer im Iran normal?
Ali Fathollah-Nejad: Wenn es um öffentliche Demonstrationen oder Menschenansammlungen in Iran geht, muss man immer im Hinterkopf behalten, dass so etwas unter normalen Umständen nicht möglich ist. In der Vergangenheit hat man bei diversen Versammlungen gesehen, dass das Regime besonders auf kritischen Protest äußerst brutal reagiert.
Im Hinblick auf eigene Kundgebungen hat die Regierung hingegen bestimmte Taktiken, damit diese so groß werden wie die aktuellen. Dazu gehört beispielsweise, dass Staatsbedienstete, aber auch Schüler, Studenten und Sicherheitskräfte dazu angehalten werden, auf diesen Kundgebungen zu erscheinen; sonst drohen ihnen Strafen. Und es werden Menschen aus umliegenden Dörfern und kleineren Städten zu diesen Trauerfeiern hingekarrt. Diesen zumeist ärmeren Leuten wird dann Verpflegung versprochen. All diese Maßnahmen sind allen Iranern geläufig, nur dem Ausland nicht.
Bei den Trauerfeiern für Ghassem Soleimani muss man noch einen zweiten Faktor mitbedenken: Die Art und Weise, wie dieser General in den letzten Jahren in der Staatspropaganda dargestellt wurde, nämlich als ein primär nationalistischer Führer, der unabdingbar dafür war, dass Irans nationale Sicherheit gewährleistet werden konnte, der erfolgreich die Bedrohung durch den "Islamischen Staat" abgewehrt hat. Unterschlagen wurde dabei allerdings, dass Iran bereits zwei Jahre vor der Entstehung des IS in Syrien aktiv war und Teherans Politik Teil der Entstehungsgeschichte des IS in Syrien und Irak gewesen ist. Daran war auch General Soleimani tatkräftig beteiligt. Solch eine Darstellung eines in erster Linie patriotischen Helden hat natürlich Ausstrahlungskraft auf jene, die normalerweise nicht zu den Unterstützern des Regimes gehören. Und das erklärt seine relative Popularität im Vergleich zu anderen Regime-Vertretern.
Kann man also von staatlich verordneter Trauer sprechen?
Das ist auf jeden Fall so. Es gibt viele Iraner, die kritisieren, dass es nach der brutalen Niederschlagung der November-Proteste mit einigen Hundert Toten keine Trauerfeier gegeben hat. Daran sieht man schon die eklatante Doppelmoral.
Im Iran ist die Trauer über den Tod Soleimanis groß. Wie wurde die Nachricht denn in anderen Ländern des Nahen Ostens aufgenommen?
Außerhalb der Grenzen des Iran, vor allen Dingen in jenen Ländern, in denen die iranischen Truppen unter Leitung von Soleimani aktiv waren, wird die Tötung des Generals absolut gegenteilig bewertet. Man hat auf den Straßen des Irak, in Syrien und in den Palästinensergebieten Szenen der Freude gesehen.
Ghassem Soleimani galt als das Gesicht und der Architekt der iranischen Regionalpolitik, als jemand, der blutbeschmierte Hände hat - ob durch die Unterstützung des Assad-Regimes in Syrien oder durch die Steuerung irakischer Milizionäre, die mit dem Iran verbunden sind und die zuletzt maßgeblich an der brutalen Niederschlagung der Irak-Proteste seit Anfang Oktober beteiligt gewesen sind. Soleimani hatte das angeordnet. Für diese Leute wird die Tötung Soleimanis als Befreiung wahrgenommen.
Im Iran sind angesichts prekärer Lebensverhältnisse bis vor ein paar Wochen viele Menschen auf die Straße gegangen und haben protestiert. Davon ist in der scheinbar kollektiven Trauer nichts mehr zu sehen. Wie passt das zusammen?
Das hängt wirklich damit zusammen, dass es sich bei den Trauerfeiern vor allem um staatliche Inszenierungen handelt, bei denen Einheit nach innen, aber vor allem nach außen demonstriert werden soll. Innerhalb eines äußerst autoritären Systems wie des iranischen gibt es keine freien Proteste und Kundgebungen.
Man darf aber angesichts dieser Bilder nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass alle Iraner felsenfest hinter ihrer Führung stünden. Die Tötung Soleimanis ändert nichts an der sozio-ökonomischen Misere und der Kritik der Menschen im Iran an einem repressiven Regime, zu dem natürlich auch Soleimani gehörte. In solchen Zeiten halten sie sich einfach nur zurück und gehen nicht auf die Straßen, was ohnehin sehr gefährlich ist, nun aber noch gefährlicher wäre. Die Soleimani-Episode und die sehr effektiv gesteuerte staatliche Kundgebungsorgie übertüncht viele Realitäten in Iran, die aber unter der Oberfläche weiterbrodeln.
Dr. Ali Fathollah-Nejad ist Politologe. Seit 2017 ist er Gastwissenschaftler an der "Brookings Institution" in Doha, einer akademischen Denkfabrik. Davor war er Iran-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Fathollah-Nejad ist im Iran geboren.
Das Interview führte Nastassja Shtrauchler