Irak: Sitzstreiks und leere Stühle
19. August 2022Eigentlich sollte sie am Samstag stattfinden, nun hat Schiitenführer Muktada al-Sadr eine Großkundgebung abgesagt - zumindest auf unbestimmte Zeit. Seine Sorge vor Gewalt sei zu groß, "das Blut der Iraker ist wertvoller als alles andere", erklärte er diese Woche auf Twitter.
Al-Sadr gilt nicht erst seit seinem Triumph bei den letzten Parlamentswahlen - aus ihnen war seine Fraktion als die stärkste hervorgegangen - als einer der mächtigsten Politiker im Irak. Eine Lösung für die tiefe politische Krise des Landes ist dennoch nicht in Sicht. Ende Juli hatten al-Sadrs Anhänger das irakische Parlament gestürmt, seitdem halten sie vor diesem einen Sitzstreik ab. Sie fordern ein Ende der Korruption und eine Regierung frei von ausländischem Einfluss. Doch damit provozierten sie ihre größten Rivalen, die Allianz pro-iranischer Schiiten, die Ende vergangener Woche ebenfalls einen Sitzstreik begannen.
Einladung zum Gespräch
Dass die politischen Spannungen im Irak weiterhin nicht gelöst sind, deutet auch der Umstand an, dass al-Sadr die Teilnahme an einem vom parteilosen Ministerpräsidenten Mustafa al-Kadhimi organisierten Treffen von Spitzenpolitikern abgesagt hatte. Das Treffen, ließ al-Khadimi mitteilen, habe das Ziel, "einen ernsthaften Dialog zu beginnen, mit dem Ziel, Lösungen für die derzeitige politische Krise zu finden".
Das Medienbüro des Premierministers veröffentlichte nach Ende des Treffens ein Foto, das auch den leeren Stuhl für den Vertreter der Sadr-Fraktion zeigt. Deren Vertreter, deutete die Aufnahme an, sind jederzeit willkommen. Die Abschlusserklärung des Treffens wurde Medienberichten zufolge von den Anhängern al-Sadrs positiv aufgenommen. Das deutet darauf hin, dass diese an weiteren Treffen vielleicht doch teilnehmen könnten.
Dass das Treffen nicht mit sämtlichen Teilnehmern stattfand, zeige, dass die Situation weiterhin schwierig sei, sagt Sarah Hepp, Leiterin der in Amman ansässigen Friedrich-Ebert-Stiftung Irak. "Bereits seit dem vergangenen Herbst herrscht politischer Stillstand im Irak. Nun hat die Stürmung des Parlaments gezeigt, dass es Kräfte gibt, die nicht am Verhandlungstisch bleiben", so Hepp im DW-Interview.
Eine langanhaltende Krise
Ausgangspunkt der Spannungen sind die Wahlen vom Oktober vergangenen Jahres. Bislang haben sich die ins Parlament gewählten Fraktionen nicht auf einen neuen Premierminister einigen können, so dass das Land seit Monaten ohne Regierung auskommen muss.
Zuletzt hatte die Allianz pro-iranischer Schiiten den ehemaligen Minister Mohammed Schia al-Sudani für das Amt des Premierministers vorgeschlagen. Al-Sadr und seine Anhänger hingegen lehnen al-Sudani als neuen Premier ab. Sie sehen in ihm die erweiterte Hand des umstrittenen ehemaligen Premierministers Nuri al-Maliki, in dessen Amtszeit er als Minister für Menschenrechte fungierte.
Forderung nach Auflösung des Parlaments
Während die pro-iranischen Schiiten für eine umgehende Regierungsbildung eintreten, fordern al-Sadrs Anhänger die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen. Vor wenigen Tagen erklärte der Oberste Justizrat, er sei nicht befugt, das Parlament aufzulösen.
Der Justizrat habe eine korrekte Entscheidung getroffen, sagt Dia al-Shakerchi, ehemals Mitglied des verfassungsgebenden Komitees im Irak. Die Verfassung enthalte keinerlei Vorgaben, die den Rat zur Auflösung des Repräsentantenhauses ermächtigten. Möglich sei dies nur durch einen gemeinsamen Antrag des Präsidenten der Republik und des Ministerpräsidenten, außerdem müsse die Mehrheit der Parlamentsabgeordneten zustimmen. Insofern sei er gezwungen, die Forderung al-Sadrs abzulehnen, heißt es in einer Erklärung des Justizrats.
Sorgen vor Gewalt
Bislang sind die Kundgebungen weitgehend friedlich geblieben. Das, sagt Hepp, gehe auch auf den Umstand zurück, dass die Muslime derzeit den heiligen Monat Muharram feierten, den ersten Monat des islamischen Kalenders, in dem gewalttätige Handlungen verboten sind. Es sei nicht auszuschließen, dass die Proteste nach Ablauf dieses Monats eskalierten, so Hepp: "Ich sehe derzeit keine Annäherung, nichts, das helfen könnte, den Konflikt friedlich zu beenden." Zwar riefen internationale Organisationen wie die United Nations Mission for Iraq (UNAMI) genau dazu auf. "Aber wie das aussehen soll, davon hat derzeit niemand eine richtige Vorstellung", sagt Hepp.
Allerdings berge eine Eskalation der Gewalt für alle Beteiligten auch politische Risiken, sagt Dia al-Shakerchi. "Diejenigen, die für die Verschärfung der Gewalt verantwortlich wären, dürften dafür einen Preis zahlen, und zwar in Form eines Stimmenverlustes bei künftigen Wahlen." Generell hätten die meisten Menschen kein Interesse an inner-schiitischen Rivalitäten. "Die allermeisten wollen einen stabilen Irak", so Shakerchi, der seit geraumer Zeit in Hamburg lebt.
Breite Proteste nicht ausgeschlossen
Ähnlich sieht es auch Sarah Hepp. Sie berichtet von Gesprächen mit Aktivisten jener Protestbewegung, die 2019 für einen überkonfessionellen, die Rivalität zwischen Schiiten und Sunniten überwindenden irakischen Staat sowie ein Ende der Korruption demonstriert hatten. Nachdem die irakischen Sicherheitskräfte die Kundgebungen damals unter Einsatz von Gewalt aufgelöst hatten, hat sich die Protestbewegung in der derzeitigen Situation eher zurückhaltend gezeigt. Dennoch seien deren Anliegen weiter aktuell, resümiert Hepp ihre Eindrücke.
"Die Aktivisten haben uns gesagt, dass viele junge Iraker eine künftige Regierung daran messen, inwiefern sie für politischen und sozialen Fortschritt sorgen könne." Außerdem hätten ihre Gesprächspartner erklärt, sie seien bereit, wieder auf die Straße zu gehen, sollte die Lage stagnieren oder sich sogar verschlechtern. "Offen ist natürlich, welches Mobilisierungspotential die Bewegung von 2019 noch habe, so Hepp. "Ich könnte mir aber auch vorstellen, dass womöglich andere, bislang eher passive Teile der Bevölkerung auf die Straße gehen, sollte die Lage stagnieren oder sich sogar verschlechtern."