Intensivpflege: Das Recht, zuhause zu leben
2. Juli 2020Gegen die Reform der Intensivpflege hatte es noch in dieser Woche Proteste gegeben. Ist eine Demo in der Pandemie nicht zu gefährlich für eine Beatmungspatientin? "Dann sterbe ich lieber an Corona, als dass ich in einem Pflegeheim elendig dahinsieche", sagte Aktivistin Laura Mench der Deutschen Welle. "Verhüllt gegen Unsichtbarkeit" - so lautete das Motto einer Protestaktion am Dienstag vor dem Brandenburger Tor in Berlin. Es war Menchs Idee, sich zu verhüllen, um zu zeigen, dass sie fürchtet, gegen ihren Willen im Heim zu landen und aus der Gesellschaft zu verschwinden.
Um das Gesetz wurde bereits seit August 2019 gestritten. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will damit die Qualität der Versorgung verbessern, sagt er. Mehr als 20.000 Menschen in Deutschland brauchen intensive Pflege rund um die Uhr, etwa weil sie beatmet werden wie Laura Mench - "immer wenn ich liege" - oder weil sie nicht eigenständig Sekret aus den Luftwegen abhusten können. Grund können Querschnittslähmungen durch schwere Unfälle sein oder nicht heilbare Erkrankungen wie ALS oder Multiple Sklerose.
Verbesserungen müssten bei den Betroffenen eigentlich Zustimmung auslösen, doch sie bleiben misstrauisch. Das Problem: Im ersten Entwurf (RISG) sollte die Versorgung im Heim zur Regel werden. Das versetzte die große Zahl der Betroffenen, die zuhause leben, in Panik und Wut. Spahn begründete das Gesetz eher wirtschaftlich: mit dem Kampf gegen Abrechnungsbetrug, hohen Kosten für häusliche Intensivpflege, zu wenig Anreizen zur Entwöhnung von der Beatmung, später dann dem Pflegekräftemangel. Genaue Zahlen konnte das Ministerium auf Anfragen der Linken und der Grünen im Bundestag nicht vorlegen.
Nicht nur Betroffene und Verbände haben seit 45 Wochen protestiert - eine Petition erhielt mehr als 210.000 Unterschriften -, auch die Behindertenbeauftragten des Bundes und der Länder beklagten die Verletzung der UN-Menschenrechtskonvention. Der Entwurf wurde in kleinen Schritten abgeschwächt, aber bis zuletzt blieb nach Meinung von Kritikern zu viel Spielraum für den Medizinischen Dienst, der die häusliche Versorgung prüfen soll und die Krankenkassen, die für gesetzlich Versicherte zahlen.
Betroffene und Pflegedienste in der häuslichen Pflege haben Erfahrungen mit ihnen: Sie berichten vom zähem Streit mit den Kassen über die Kosten der lebenswichtigen Versorgung. Laura Mench sagt, auch sie habe schon den Eindruck gehabt, dass ihre Krankenkasse sie aus Kostengründen "in ein Pflegeheim verfrachten" wollte.
Nun hat der Bundestag mit der Mehrheit der großen Koalition aus CDU/CSU und SPD der neuesten Fassung des Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetzes (IPReG) zugestimmt.
"Wer entscheidet, was berechtigt ist?"
Ein Leben im Heim ist für die Bloggerin Laura Mench keine Option, sie kennt es: "Ich habe elf Jahre nur zwischen Betonmauern gelebt, weil das Personal nicht da war, um mit mir auf eine Demo zu gehen oder in den Park um die Ecke. Alleine kann ich das nicht."
"Selbstbestimmt in allen Lebenslagen", diese Maxime "gilt auch für Menschen mit Intensivpflege-Bedarf", sagt Nicole Westig, pflegepolitische Sprecherin der FDP im Bundestag. "Es gibt Kinder, die beatmet zur Schule gehen, Menschen, die verheiratet sind, ein halbwegs normales Leben führen können, die als Richter arbeiten - all das steht auf dem Spiel." Häufig würden Familienangehörige die Pflegedienste entlasten.
Bei der Protestaktion vor dem Brandenburger Tor nahm Westig zusammen mit Abgeordneten der Grünen, der Linkspartei und der SPD Unterschriften zur Petition "Lasst Pflegebedürftigen ihr Zuhause" entgegen. Für Laura Mench ist das "ein wichtiges Zeichen". Die Oppositionsparteien FDP, Grüne und Linke hatten gemeinsam einen Änderungsantrag zum IPReG verfasst.
Das IPReG schränke das Selbstbestimmungsrecht ein, sagt Westig im DW-Interview. Einen Tag vor der Abstimmung sei zwar eine umstrittene Bedingung zum Recht auf häusliche Pflege gestrichen worden. "Berechtigten Wünschen der Versicherten ist zu entsprechen", lautet die neue Formulierung. Westig nennt das eine Verbesserung, aber nicht zufriedenstellend: "Wer entscheidet, was berechtigt ist?" Auch bei den Regeln zur jährlichen Prüfung der Pflege durch den Medizinischen Dienst, der bei Versorgungslücken eine "Zielvereinbarung" mit den Versicherten formulieren soll, sieht sie Klärungsbedarf: Wer muss die Lücke schließen?
Mehr Eigenleistung und Kosten für Versicherte?
Diese Bedenken teilt Markus Behrendt vom Verein IntensivLeben, der mit seiner Familie Sohn Jascha pflegt: "Zu befürchten ist, dass Versicherte zunehmend gedrängt werden, die Versorgungssicherheit durch Eigenleistung oder selbst beschaffte Pflegekräfte zu gewährleisten."
Zudem macht dem engagierten Vater Sorgen, dass die Regierungsparteien "offenbar beabsichtigen, den Leistungsanspruch auf medizinische Behandlungspflege zu beschränken". Für bestimmte Pflegemaßnahmen würden dann nicht mehr die Krankenkassen aufkommen. Behrendt sieht Mehrkosten von mehreren tausend Euro auf Betroffene zukommen. Dann wären viele auf Sozialhilfe angewiesen, warnt er. Die freie Wahl - zuhause oder im Heim - wäre "faktisch nicht mehr gewährleistet".
Zu wenig stationäre Plätze
Gesundheitsminister Spahn hat damit argumentiert, Abrechnungsbetrug zu bekämpfen und Kosten zu senken. Häusliche Intensivpflege kann 20.000 Euro im Monat und mehr kosten. Die Liberale Westig sagt: "Abrechnungsbetrug muss bekämpft werden. Das könnte man aber durch Qualitätskontrollen schon jetzt", ohne das Gesetz.
Auch die Kostenfrage beurteilt sie anders als Spahn: "Solange das Ministerium die Einsparpotenziale gar nicht benennen kann, mache ich da ein großes Fragezeichen. Ich sehe nicht, dass es stationär wirklich günstiger wird und auch nicht, dass es qualitativ umgesetzt werden kann. Schon jetzt gibt es nicht genügend Plätze."
Todesfalle - Erkenntnisse in der Corona-Krise
Eine Unterbringung in der stationären Pflege sieht Westig derzeit noch kritischer: "Das ist in der Corona-Pandemie besonders grotesk: Vor ein paar Wochen haben wir alle nach dem Motto 'stay at home - zuhause bleiben' gelebt."
Auch Aktivistin Laura Mench verweist auf wichtige Erkenntnisse in der Corona-Krise. Pflegeeinrichtungen könnten "sehr schnell zu einer Todesfalle werden", wenn Coronaviren oder andere Erreger eingeschleppt würden: "Das sind massenhaft Risikopatienten, die sich gegenseitig anstecken." Dass viele Pflegekräfte aus der Intensivpflege in Heime wechseln würden, hält sie für unwahrscheinlich. Viele hätten sich bewusst gegen "Fließbandarbeit am Patienten" entschieden.
Schon in normalen Zeiten sieht Mench Gefahren bei der Heimversorgung, "weil ich meine Pflegekraft vielleicht mit zehn anderen teilen muss". Sie spricht von einer Gefährdung für "Menschen, die nicht abhusten können wie ich oder die abgesaugt werden müssen". Wenn das zu spät erfolge, könne es zu bleibenden Schäden kommen, im Extremfall sogar zum Tod: "Wenn man nicht rechtzeitig hustet oder abgesaugt wird, kommt man in Sauerstoff-Unterversorgung. Wir alle wissen, was dann passiert."
Im Notfall klagen
Die neue Fassung des Intensivpflege-Gesetzes ist aus Sicht von Laura Mench eine "krasse Entschärfung der bisherigen Versionen", trotzdem blieben Unklarheiten. Erleichterung darüber, dass sich die ersten Entwürfe nicht durchgesetzt haben, merkt man auch anderen Reaktionen an. "Betroffene können aufatmen", resümiert der Sozialverband VdK, der vorher mit einer Verfassungsbeschwerde gedroht hatte.
"Jetzt heißt es, den Krankenkassen genau auf die Finger zu schauen", mahnt VdK-Präsidentin Verena Bentele: "Es darf niemand gezwungen werden, sein Zuhause zu verlassen." Wenn die Krankenkassen dagegen vorgingen, "werden wir das vor den Sozialgerichten angreifen".
Sich notfalls zu wehren, hat sich auch Laura Mench vorgenommen. Falls die Krankenkasse versuchen sollte, ihr das persönliche Budget für ihre Assistenzkräfte zu streichen, die ihre Intensivversorgung sichern, will sie dagegen klagen: "Das kann durch alle Instanzen gehen. Ich schrecke davor nicht zurück."