Integration ist mehr als Deutsch lernen
8. Februar 2014In ihrer kurzen Sporthose und dem weißen T-Shirt, die Hüfte wiegend und die Arme wie bei einem Popkonzert in die Luft gestreckt, wirkt die 15-jährige Masha ausgesprochen selbstbewusst auf der Bühne. "Vor einigen Monaten war das noch undenkbar", sagt Kirstin Richter, Mashas Lehrerin am Berliner Rheingau-Gymnasium. Vermutlich hat das Theaterprojekt "unart" das Selbstbewusstsein der Schülerin aus dem Iran beflügelt.
Für den Theaterwettbewerb, der alle zwei Jahre ausgetragen wird, haben Jugendliche aus vier großen Städten eigene 15-minütige Bühnenstücke erarbeitet. Unterstützt werden sie von Theaterpädagogen, den Mädchen und Jungen des Rheingau-Gymnasiums stand das Berliner Maxim Gorki Theater zur Seite. Es gab eine Vorauswahl der Gruppen, diese Hürde haben die Berliner bereits genommen. In dieser Woche nun standen sie auf der Bühne, in der letzten Runde vor dem Finale im April, um zu zeigen, was sie können.
Kein einfacher Prozess
Seit Oktober laufen die Proben am Rheingau-Gymnasium. Ein schwieriger Prozess, denn diese Gruppe ist ganz besonders: Fünf Schüler in dem zusammengewürfelten Ensemble besuchen eine reguläre zehnte Klasse, zwölf weitere stammen aus einer sogenannten "Willkommensklasse". Im Amtsdeutsch heißen die Berliner Willkommensklassen "Lerngruppen für Neuzugänge ohne Deutschkenntnisse", spezielle Förderklassen für Jugendliche, deren Eltern als Flüchtlinge oder aus anderen Gründen nach Deutschland gekommen sind.
Die Jugendlichen der Willkommensklasse, zwischen 12 und 16 Jahren, stammen aus neun Nationen. Entsprechend ist die Sprachenvielfalt. Sie sollen Deutsch lernen, um nach spätestens einem Jahr Regelklassen an anderen Schulen zu besuchen. Für Helene Renger, Lehrerin für darstellendes Spiel am Rheingau-Gymnasium, ist das Theaterprojekt eine Chance, den Jugendlichen Anerkennung zu zollen. Und der Willkommensklasse, die bislang am Gymnasium eher so nebenher läuft, mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Die Schüchternsten sind die Expressivsten
"Ich finde es toll, wir arbeiten zusammen, wir sind ein Team", sagt der 14-jährige Achmad, der in den vergangenen Monaten sehr gut Deutsch gelernt hat. Auch seiner 13-jährigen Schwester Naya macht das Theaterspielen Spaß. Sie stört es nicht, dass das Proben auch mit viel Warterei und Disziplin verbunden ist. "Manchmal proben wir hinter dem Vorhang weiter." Die beiden kommen aus Syrien und sind seit fünf Monaten in der Willkommensklasse. Naya ist eher schüchtern und redet nicht viel. Deutsch fällt ihr noch schwer, aber in ihrer Muttersprache Arabisch redet sie auch nicht viel mehr. Dafür singt sie. Ein arabisches Lied, ganz allein, umgeben von den anderen Jugendlichen auf der Bühne.
"Anfangs dachte ich, das wird gar nichts, die sind einfach viel zu schüchtern und haben überhaupt keine eigenen Ideen, sondern warten darauf, was wir ihnen vorgeben", erzählt Jousef Sweid, einer der Coaches des Maxim Gorki Theaters. Er wurde speziell für die arabisch sprechenden Jugendlichen engagiert. Kurz vor Weihnachten habe es einen Tiefpunkt gegeben. "Es klappte nichts, die Stimmung war schlecht, und dann haben wir uns zurückgezogen und die Jugendlichen machen lassen." Und plötzlich hätten sie eigene Ideen entwickelt und das Ganze zu ihrer Sache gemacht.
Vielsprachigkeit auch auf der Bühne
"We are" ist der Titel des Stücks. Es beginnt in Englisch, das war neben Deutsch und Arabisch die Arbeitssprache. Dann aber geht es vielsprachig weiter. Dabei präsentieren sich die Jugendlichen auf der Bühne in ihren Wunschrollen. Dass hier auch eine Menge Fernseh-Klischees auftauchen, Anspielungen etwa auf Formate wie "Popstars" oder "Traumhochzeit", irritiert ein wenig, bildet aber eben auch die Wirklichkeit der Jugendlichen ab. In lockerer Szenenfolge konkurriert dann die Fußballgruppe der Jungs mit der Tanzgruppe der Mädchen und der Gruppe, die "wirklich" Theater spielen will.
Raus aus der Isolation
"Wir haben neue Freunde gefunden", das ist der einhellige Tenor in der Willkommensklasse. Das klingt banal, ist aber für die Jugendlichen ein echter Gewinn. Viele von ihnen leben recht isoliert in ihren Familien, manche noch im sogenannten "Auffanglager" für Flüchtlinge im Süden Berlins. Das Theaterprojekt ermögliche den Kontakt zu anderen Jugendlichen, sagt Lehrerin Kirstin Richter. "So kommen sie mal raus aus dem familiären Alltag, der oft schwierig ist." Die 13-jährige Mirije stammt aus Albanien. Samstags gehe sie eigentlich in die Moschee, erzählt sie, aber die Generalprobe war einfach wichtiger.
In der Schauspieltruppe des Berliner Gymnasiums scheint die Integration also zu gelingen. Fraglich ist, wie es nach dem Jahr in der Willkommensklasse weitergeht. In Berlin fehlen die Schulplätze für "Quereinsteiger" aus den besonderen Lerngruppen. Die Zahl der Flüchtlingskinder ist größer geworden, die Willkommensklassen in Berlin haben sich zwischen 2011 und 2013 mehr als verdreifacht, von rund 60 auf mehr als 180. Manche ihrer Schüler müssten deshalb monatelang auf einen Platz in der Regelklasse warten und könnten nicht nach einem Jahr wechseln, sagt Kirstin Richter. Diese Jugendlichen verbleiben dann länger in der Willkommensklasse. Die Schüler des Rheingau-Gymnasiums sind dennoch optimistisch. Sie haben ihre Wünsche für die Zukunft, wollen Ärztin, Juristin, Fußballer oder Bodyguard werden. Auch wenn einige nur ein Bleiberecht von zwei Jahren haben.
Bei der Vorentscheidung im Maxim Gorki Theater für das Finale in Hamburg hat die "Willkommensklasse" es in dieser Woche dann doch nicht geschafft. Aber die Erfahrung, die sie bei der Arbeit auf der Bühne gemacht hätten, und die Anerkennung, in einem "richtigen" Theater aufzutreten, das sei "die Sache schon wert gewesen", sagt Lehrerin Kirstin Richter. Die glänzenden Augen der Jugendlichen auf der Bühne sprechen für sich.