Inspiration und Einfluss: Georg Büchner
30. Juli 2013Ein ungeheuerlicher Vorgang: Da kommt einen junge Frau zum Arzt und berichtet, dass sie 30 Stecknadeln geschluckt habe. Selbstmord wollte sie begehen, doch nun habe sie es sich anders überlegt, ob der Doktor nicht helfen könne? Eben dieser Arzt war Ernst Büchner, der Vater des weltbekannten deutschen Dichters Georg Büchner, der vor 200 Jahren, am 17. Oktober 1813 geboren wurde.
Erschreckend-faszinierende Texte
Wenn ein runder Geburtstag so einer berühmten Geistesgröße bevorsteht, dann kommen eine Menge Publikationen auf die Ladentische der Buchhandlungen, Biografien und Monografien, Neuauflagen der Werke und Bildbände. Und es erscheinen eben auch Bücher, die auch nur in irgendeinem Zusammenhang mit dem Gefeierten stehen. Das kann höchst aufschlussreich sein. "Versuchter Selbstmord mit Stecknadeln" heißt das in der Insel-Bücherei herausgekommene schmale Bändchen, das sechs wissenschaftliche Texte des Dichtervaters umfasst.
Was das denn nun mit dem Sohn und dessen Werk zu tun hat? Durchaus eine ganze Menge. Man muss sich nur den "Woyzeck" vor Augen führen und das dort beschriebene Menschenexperiment: 30 Tage darf die Titelfigur nur Erbsen essen, zu Forschungszwecken. Büchner hat die Aufzeichnungen seines Vaters kurz vor seinem Tod erhalten, gerade während er sein Theaterstück verfasste. Die Parallelen sind verblüffend. Auch so kann man sich dem Werk des Dichters nähern.
Am Abgrund menschlicher Existenz
Auf den ersten Blick hat Christine Lavants Erzählung "Das Wechselbälgchen" nichts mit Georg Büchner zu tun. Die österreichische Lyrikerin, 1973 mit 57 Jahren gestorben, war eine radikale literarische Außenseiterin, geschätzt von Thomas Bernhard und anderen. In der 60-seitigen Erzählung geht es um eine verkrüppelte junge Frau, geistig zurückgeblieben, irgendwo in der tiefsten Provinz lebend. Von einem Knecht wird sie geheiratet und geschwängert. Ein Leben am Rande menschlicher Existenz wird hier beschrieben, unwirklich und grausam und doch von tiefem Humanismus geprägt.
"Eine Geschichte, so fiebrig und atemlos wie Büchners 'Lenz"", schrieb ein Kritiker über "Das Wechselbälgchen". Dass Lavant dem Knecht ausgerechnet den Namen Lenz verlieh, lässt vermuten, dass die österreichische Schriftstellerin die berühmte Novelle über einen dem Wahn verfallenen Dichter beim Schreiben ihrer Erzählung im Kopf gehabt hat. Auch Atmosphäre und Stimmung des kurzen Textes erinnern in manchen Passagen an Büchners berühmte Novelle über den verzweifelten Sturm-und-Drang-Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz.
Büchners Novelle "Lenz" als Vorbild
Ganz eindeutig auf Georg Büchner und dessen Held "Lenz" bezieht sich der 1967 geborene Eduard Habsburg in seiner Erzählung "Lena in Waldersbach". Er schickt eine 17-jährige Schülerin namens Lena in die Gegend in den Vogesen, in der auch schon Büchners Lenz unterwegs war. Habsburg umgibt seine literarische Titelfigur ebenso mit einem Mysterium, wie der vor 200 Jahren geborene Dichter es mit seinem Protagonisten getan hat. Auch in Habsburgs Novelle vermischen sich äußerliches Geschehen und innere psychische Vorgänge. Man sollte die Büchner-Novelle kennen, um den modernen Nachfolgetext zu genießen. Aber vielleicht geht es ja auch umgekehrt: Heutige Leser nähern sich Georg Büchner, indem sie Habsburgs Text zuerst lesen.
Ernst Büchner: Versuchter Selbstmord mit Stecknadeln, Insel Verlag, ISBN 978-345819372
Christine Lavant: Das Wechselbälgchen, Wallstein Verlag, ISBN 978-3835311473
Eduard Habsburg: Lena in Waldersbach, C.H.Beck Verlag, ISBN 978-3406644948