Innehalten inmitten der Raserei
5. Juli 2013"Beschütze meine Familie und lass mich heil nach Hause kommen." Ein LKW-Fahrer aus Ostdeutschland hat diese Zeilen in das aufgeschlagene Buch gekritzelt. Es ruht auf einem Ständer in der Autobahnkapelle St. Raphael bei Neuss im Rheinland. Im Sekundentakt rasen Autos, Lastwagen und Motorräder über die A57. Doch Straßenlärm dringt kaum in die Kapelle. Andächtige Stille umfängt den Besucher. Kerzenschein erhellt das Halbdunkel.
Ort für die Zwiesprache mit Gott
"Wenn Sie hier reinkommen", sagt Helene Schiele, "ist da eine Atmosphäre, fernab von diesem lauten Autobahnlärm. Irgendwie kommt man zur Ruhe und fängt an, still zu beten." Viele Menschen, die sonst nicht zur Kirche gehen, kämen her, sagt sie: Deutsche wie Ausländer, Christen wie Muslime, Buddhisten wie Hindus - Menschen aller Nationen, aller Religionen. Selbst Menschen, die mit Religion nichts am Hut hätten, hielten an, zündeten Kerzen an und beteten. "Das ist einfach ein anonymer Ort, wo man reingehen kann, um mit Gott zu sprechen, für irgendwas zu danken oder zu bitten", sagt die rüstige Rentnerin.
Die Kapelle ist Teil ihres Lebens geworden. Sie und ihr Mann Dieter kommen jede Woche her, zum Fegen, Putzen, Kerzenauffüllen, für Gartenarbeiten und Reparaturen - und das seit bald 37 Jahren. Damals hat die örtliche Kirchengemeinde ein Stück Land abgegeben. Spenden von Firmen und Privatleuten ermöglichten den Bau von St. Raphael. An der stark befahrenen Autobahn 57 entstand ein "Rastplatz für die Seele". Wer den Schildern folgt oder einfach so zur Raststätte Nievenheim abbiegt, kann den gedrungenen Backsteinbau, dessen Dach von einer grünlichen Kupferhaut überzogen ist, eigentlich kaum übersehen.
Rastplatz für die Seele
"Solche Initiativen vor Ort sind typisch für neue Autobahnkirchen-Projekte", sagt Birgit Krause von der Bruderhilfe-Akademie in Kassel. Diese Akademie organisiert die Vernetzung der Kirchen und Kapellen und veranstaltet die jährliche ökumenische Konferenz der Autobahnkirchenpfarrer.
Kurt Traut ist Geschäftsmann aus der Gegend um Frankfurt am Main. Seinen Mercedes hat er in Sichtweite geparkt. Der 55-Jährige ist nicht zum ersten Mal hier. "Reingegangen bin ich, weil die Tür offenstand. Weil ich etwas mehr Zeit habe als an einem normalen Tag. Und dann schau ich schon mal rein - weil es ruhig ist in so einer Kirche. Man findet einen ganz kleinen Moment Abstand von der Welt draußen, die doch sehr hektisch ist", sagt der Mann im dunkelblauen Anzug.
Moderne Wegkreuze
Ob zu Fuß, mit Pferd und Wagen oder mit dem Auto - schon immer war der Mensch mobil. Der Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg und der nachfolgende Autoboom ließen den Verkehr in Deutschland rasant anschwellen. Was im Mittelalter Kapellen und Wegkreuze für Wanderer und Pilger waren, sind heute Autobahnkirchen - Orte des Innehaltens, der Einkehr, der Zwiesprache mit Gott.
40 Autobahnkirchen und Kapellen säumen hierzulande die 12.000 Autobahnkilometer, 18 mit evangelischer, 8 mit katholischer und 14 mit ökumenischer Ausrichtung. Soeben wurde eine weitere in der Nähe von Siegen eingeweiht. Die nächste soll im thüringischen Bibra, danach eine am Berliner Autobahnring eröffnet werden. Rund eine Million Menschen besuchen jährlich die deutschen Autobahnkirchen. Das ist einmalig auf der Welt.
Danksagungen und Bitten
In der Neusser Kapelle empfängt ein steinerner Engel mit angezogenen Flügeln und entrückter Heiligenmiene jeden Reisenden. Raphael, der Schutzheilige der Reisenden, verspricht Schutz und Hilfe - nicht nur auf der Straße. An ihn richten die Besucher ihre Gebete und schreiben in kurzen Zeilen Dank und Bitten, Angst und Hoffnung, Banales und Weltbewegendes ins Anliegenbuch: "Gib Wolfgang noch eine Chance!" steht da. Ebenso: "Gracias por la vida!" - "Danke für das Leben!". Und eine dritte Schreiberin fragt bang: "Bleibt unsere kleine Familie bestehen?" Die meisten Unterschriften sind unleserlich.
Maya Marita hat sich für ihre Pause am Rastplatz Nievenheim auf einer Holzbank niedergelassen. Sie sei zwar bekennende Christin, sagt sie. Doch in die Kapelle gegangen ist sie nicht, wieder einmal: "Ich find es ein gutes Angebot. Aber wenn man jetzt überlegt: Ich bin unheimlich viel unterwegs - aber wie oft nutze ich das eigentlich?" Sie werde jetzt bald fünfzig, sagt die Frau nachdenklich. Erst ein einziges Mal sei sie in einer Autobahnkirche gewesen. "Ist das nicht erschreckend?"