Asperger-Autisten als IT-Spezialisten
3. Dezember 2021"Stellen Sie sich mal vor, Sie lernen Michael Wieland kennen und er sagt ihnen im zweiten Meeting, 'also ganz ehrlich, ich weiß nicht, warum du Geschäftsführer bist'", erinnert sich Andreas Genz. Er ist Geschäftsführer der dpa picture alliance, einer Tochter der Nachrichtenagentur dpa. Nach so ungeschminkter Ehrlichkeit könne die Zusammenarbeit natürlich direkt beendet werden, so Genz. Für ihn war sie aber nicht zu Ende - vielmehr hat der IT-Spezialist Michael Wieland ihm in den kommenden Monaten geholfen, eine Software einzuführen, die viele Prozesse effizienter gemacht hat.
Asperger-Autisten "sehen" komplexe Strukturen
Wieland arbeitet für das IT-Dienstleistungsunternehmen Auticon, das sich darauf spezialisiert hat, Asperger-Autisten und atypische Autisten mit besonderem IT-Verständnis als IT-Spezialisten an Unternehmen zu vermitteln. "Die meisten Asperger-Autisten haben gemeinsam, dass sie die Welt anders wahrnehmen und Eindrücke anders filtern", sagt Wieland. Er selber könne durch seinen Autismus sehr gut Strukturen erkennen.
"Ich kann ein Organigramm angucken und ich fühle direkt, wie in diesem Unternehmen kommuniziert wird, wie die Prozesse ablaufen, wie miteinander gearbeitet wird. Vor meinem inneren Auge sehe ich, wie die Informationen durchs Unternehmen laufen und kann daraus ganz viele Schlüsse ziehen, über die sich andere wundern und fragen: Woher weißt du das?"
Arbeitslosigkeit trotz Hochbegabung
Menschen mit Asperger-Autismus können oft extrem gut logisch und analytisch denken, sich gut konzentrieren und das auch bei monotonen, sich wiederholenden Aufgaben. Oft sind sie detailverliebt und haben einen hohen Qualitätsanspruch. Alles Eigenschaften, die im IT-Bereich sehr willkommen sind und mit denen sie in einigen Bereichen nicht-autistischen Menschen weit überlegen sind.
Und trotzdem schaffen es viele nicht, sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten, erzählt Wieland. Verlässliche Zahlen dazu gibt es nicht. Das liegt auch daran, dass viele Asperger-Autisten keine Diagnose haben oder sich nicht outen. Aber es gibt Indizien. "Wir haben viele Kollegen bei Auticon, die wirklich noch nie gearbeitet haben, die aus dem zweiten Arbeitsmarkt kommen oder das Studium abgebrochen haben", erzählt Wieland. "Viele unserer Mitarbeiter haben sehr gebrochene Lebensläufe, weil sie mit dem System nicht klargekommen sind."
Das Problem: soziale Interaktion und Kommunikation
Michael Wieland ist da eine Ausnahme. Er hat auch schon vor seiner Zeit bei Auticon in Führungspositionen gearbeitet. Angeeckt ist er trotzdem häufig, bevor er mit über 40 Jahren seine Diagnose bekommen hat.
"Ich kann Menschen relativ schlecht lesen", sagt er. "Das wird mir zum Verhängnis, wenn nicht mehr auf der Sachebene argumentiert wird, sondern es um politische Spielereien geht." Dadurch sei er immer wieder manipuliert worden. Schwierig sei es für ihn auch, weil er Dinge wörtlich nehme und nicht zwischen den Zeilen lesen könne. Auch Ironie verstehe er nicht immer. "Das führt dazu, dass Menschen mich instrumentalisieren und ich dann gegen die Wand laufe. Das ist mir relativ oft passiert," so Wieland.
Oft entscheidend: kleine Änderungen im Arbeitsumfeld
Bei Auticon wird auf die besonderen Bedürfnisse der Mitarbeitenden viel Rücksicht genommen. Unter anderem bekommt jeder IT-Spezialist einen Coach zu Seite gestellt. Der hilft bei den Kunden, über Autismus aufzuklären, Problemen vorzubeugen, Missverständnisse zu klären oder auch einfach mal, den Arbeitsplatz so zu gestalten, dass sich der jeweilige autistische Mitarbeiter wohl fühlt. Das kann damit anfangen, dass blinkende Lichter am Computer abgeklebt werden oder der Arbeitstisch in eine ruhige Ecke gestellt wird.
Jeder Auticon-Mitarbeiter braucht andere Bedingungen, sagt Dieter Hahn, der deutsche Geschäftsführer von Auticon. Es gebe nicht "den Autismus". Jeder ist anders und "wenn man einen Autisten kennt, dann kennt man wirklich nur einen."
Selbst für Wieland, der ja selber Asperger-Autist ist, sei der Umgang mit Kollegen nicht immer leicht, sagt er. "Ich musste den Umgang mit Autisten auch erstmal lernen. Also nicht nur meinen Autismus, sondern auch, was es heißt, wenn andere Menschen autistisch sind."
Auf der Internet-Seite des Bundesverbandes zur Förderung von Menschen mit Autismus findet sich ein Video, dass die Überfordung von Autisten durch Sinneseindrücke demonstriert.
Auticon will weiter wachsen
Inzwischen arbeiten weltweit 290 Menschen in acht Ländern für Auticon, darunter 210 Autisten und Autistinnen. In den nächsten drei Jahren plant Hahn, die Mitarbeiterzahl mindestens zu verdoppeln. Dabei kommt Auticon die Corona-Pandemie zu Gute, durch die der Grad der Digitalisierung extrem erhöht wurde. Außerdem habe Auticon nach zehn Jahren im IT-Geschäft einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt. Unter der gewachsene Kundenstruktur seien auch viele Dax-Konzerne, sagt Hahn.
Und dann ist da natürlich der Fachkräftemangel, besonders im IT-Sektor. Unternehmen können es sich eigentlich nicht mehr leisten, Fachkräfte abzulehnen. Zudem sei die Bereitschaft zur Inklusion gewachsen, heißt es von Auticon. In vielen Unternehmen ist inzwischen eine andere Generation in Führungspositionen, die mit Themen wie Diversität und Inklusion offener und toleranter umgeht.
Bei der dpa picture alliance ist das Projekt mit Auticon nach einem Jahr abgeschlossen. Zu dem Verlauf sagt Geschäftsführer Andreas Genz: "Jederzeit gerne wieder." Er könne Auticon von ganzem Herzen nur empfehlen. "Es war ein tolles Projekt!"