Vergewaltiger vor Gericht
6. Februar 2013Mit Spannung wurde die Aussage des 28-jährigen Begleiters der vergewaltigten und schwer misshandelten Studentin beim Prozessauftakt vor einem Schnellgericht erwartet. Der Hauptzeuge der Anklage wurde von seinem Vater im Rollstuhl in das Gebäude gefahren. Noch immer ist der junge Mann schwer traumatisiert von der Gräueltat des 16. Dezember 2012, die sein Leben für immer verändert hat.
Die Angeklagten betraten den Gerichtssaal am 5. Februar, dem ersten Tag des Mordprozesses, mit gefesselten Händen. Sie hatten schwarze Masken aufgesetzt bekommen, die ihr Gesicht verhüllen sollten. Der Begleiter der Opfers soll die fünf mutmaßlichen Täter und den Bus, in dem das Paar nach einem Kinobesuch Opfer des Verbrechens wurde, eindeutig identifiziert haben. Die Angeklagten vergingen sich so brutal an der 23-jährigen Frau, dass sie knapp zwei Wochen nach der Tat starb. Die Staatsanwaltschaft nannte die Beweislage "erdrückend". Die Anklage lautet unter anderem auf Mord, Vergewaltigung und Entführung. Bei einer Verurteilung droht den mutmaßlichen Tätern die Todesstrafe.
Hoffnung auf Wandel
Seit Wochen kommt Indien nicht mehr zur Ruhe. Die Medien kennen kein anderes Thema als den Ruf nach Wandel, den der tragische Fall ausgelöst hat. Der Jurist Abhay Mohan ist als Anwalt am Obersten Gerichtshof in Neu Delhi tätig. "Der Fall hat in der Bevölkerung zu Panik und regelrechten Angstzuständen geführt. Die Menschen sind auf die Strassen geströmt, ohne dass man sie dazu aufgefordert hat", berichtet er gegenüber der Deutschen Welle. All das verdeutliche, wie tief die Angst verwurzelt sei.
Laut einer wenige Wochen vor dem Vorfall in Auftrag gegebenen repräsentativen Studie des "International Center for Research on Women", einer Nichtregierungsorganisation in Neu Delhi, haben die Hälfte der befragten Männer schon einmal eine Frau belästigt. Nur fünf Prozent der befragten Frauen fühlen sich in der indischen Hauptstadt sicher. Das Ergebnis, so die Autoren, lasse sich auch auf andere Städte übertragen.
Neue Gesetze
Mit Massendemonstrationen in vielen indischen Städten zwangen die Menschen die Regierung und die Gesellschaft, über die Rolle der Frauen im Land nachzudenken. Die indische Regierung richtete nach dem Vorfall zwei Untersuchungskommissionen ein. Eine sollte Pannen von Polizei und Justiz nach dem Vorfall untersuchen. Eine zweite Untersuchungskommission hat inzwischen in einem 630 Seiten starken Bericht ihre Empfehlungen ausgesprochen, wie Frauen und Mädchen besser vor sexuellen Übergriffen geschützt werden könnten.
Unter anderem empfahl das Gremium unter Leitung des ehemaligen Obersten Richter Indiens, J.S. Verma, den Strafrahmen für Vergewaltigung auf 20 Jahre und für Gruppenvergewaltigungen auf lebenslänglich zu erhöhen. Stirbt das Opfer oder fällt es ins Koma, kann die Todesstrafe ausgesprochen werden. Auch die Strafen für Zwangsprostitution und Menschenhandel wurden verschärft und neue Delikte wie Stalking und Voyeurismus aufgenommen. Die Empfehlungen wurden von Präsident Pranab Mukherjee bereits am Sonntag (03.02.2013) unterzeichnet und sind damit rechtskräftig. Zudem verlangen die Experten, mehr Richter einzusetzen um den Berg unerledigter Verfahren abzutragen.
Schätzungen zufolge sind allein wegen Vergewaltigung 95 000 Verfahren im ganzen Land anhängig: Wenn Verfahren und Verurteilungen verschleppt würden, dann werde das Rechtssystem ausgehöhlt, hieß es von Seiten des Gremiums. Der Anwalt Abhay Mohan warnt dennoch: "Wenn unter Druck etwas Gutes entsteht, dann ist das immer sehr zu begrüßen. Aber wenn es um neue Gesetze geht, dann kann man das nicht so einfach übertragen." Insgesamt hatte die Kommission 80 000 Vorschläge für die Überarbeitung des Strafrechts bekommen.
Debatte um Jugendstrafrecht
Ein sechster Tatverdächtiger soll noch minderjährig sein. Der 17-Jährige muss sich deshalb vor einem Jugendgericht verantworten. Da er als der brutalste der sechs mutmaßlichen Täter beschrieben wird, fordern viele in Indien eine Änderung des Jugendstrafrechts. In der Schweiz sind Jugendliche zum Beispiel im Alter von 16 Jahren volljährig, auch in Kanada können Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren für besonders schwerwiegende Taten nach dem Erwachsenenstrafrecht belangt werden.
In Indien ergab der letzte Zensus aus dem Jahre 2011, dass etwa 40 Prozent der Menschen jünger als 18 Jahre sind. Glaubt man den offiziellen Kriminalstatistiken, dann werden aber nur zwei Prozent aller Verbrechen von Jugendlichen begangen. Der Gründer der Kinderhilfsorganisation "Prayas", Amod Kant, hält die Debatte um eine Verschärfung des Jugendstrafrechts daher für überzogen. Kant rechnet vor, dass in Indien insgesamt 33 000 Verbrechen pro Jahr von minderjährigen Straftätern begangen werden, von denen etwa zehn Prozent als schwerwiegend eingestuft werden: "Ist unsere Gesellschaft nun an diesem Punkt angelangt, wo wir nicht mehr in der Lage sind, für diese etwa 3000 Straftäter etwas zu tun und sie wieder auf den richtigen Weg zurückzuführen?" fragt er.
Kant arbeitet seit mehr als 25 Jahren mit Kindern und Jugendlichen: "Von den Jugendlichen, die für schwerwiegende Straftaten verantwortlich gemacht werden, ist es so, dass jeder Fünfte unter einer schwierigen gesellschaftlichen und familiären Situation leidet. Sie sind entweder Analphabeten oder haben die Schule abgebrochen. Sie haben ein zerrüttetes Familienleben und sind deshalb zu Straftätern geworden." Kant meint daher, dass keine Debatte darüber geführt werden müsse, ob es ein neues Jugendstrafrecht geben soll: "Vielmehr muss sich jetzt endlich unsere Gesellschaft ändern." Viele Menschen in Indien sind der Ansicht, dass der Prozess und die neuen Gesetze wichtige Impulse geben auf dem Weg zu einer solchen Veränderung.