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Indien ein Jahr nach Vergewaltigungsschock

Gabriel Dominguez, Srinivas Mazumdaru14. Dezember 2013

Dieses Verbrechen hat die indische Gesellschaft verändert: Vor einem Jahr wurde eine junge Studentin in Neu Delhi brutal vergewaltigt. Gewalt gegen Frauen wird jetzt mehr thematisiert, aber es bleibt viel zu tun.

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Protestierende Frauen in Neu Delhi (Foto: dapd)
Bild: dapd

Neu Delhi am 16. Dezember 2012: Die 23jährige Physiotherapie-Studentin Jyoti Singh und ihr Freund kommen aus dem Kino und sind auf dem Heimweg. Sie steigen in einen Bus ein, von dem sie annehmen, das sie damit nach Hause fahren können. Doch der Bus ist nicht im regulären Einsatz: Sechs Männer haben das Paar in den Bus gelockt. Sie schlagen den Freund der Studentin zusammen, vergewaltigen sie brutal und fügen ihr mit einer Eisenstange schwere innere Verletzungen zu. Schließlich werfen die Täter ihre Opfer nackt auf die Straße. Die junge Frau stirbt zwei Wochen später in einem Krankenhaus in Singapur.

Obwohl statistisch gesehen alle 20 Minuten eine indische Frau Opfer einer Vergewaltigung wird, rückte die extreme Brutalität der Gruppenvergewaltigung in Neu Delhi das Thema Gewalt gegen Frauen in Indien ins Schlaglicht. Das indische Parlament verabschiedete verschärfte Gesetze bei Sexualverbrechen, darunter eine 20-jährige Mindeststrafe bei Vergewaltigungen und die Todesstrafe, wenn das Opfer an den Folgen stirbt. Auch wurde definiert, dass Vergewaltigung vorliegt, unabhängig davon, ob für eine Penetration Gegenstände oder Körperteile, welche auch immer, eingesetzt wurden.

Gesetzgeber handelte schnell

"Sexuelle Misshandlung in allen Formen wurde für illegal erklärt, einschließlich sexueller Belästigung", erklärte die prominente indische Anwältin Indira Jaising der DW. Desweiteren wurden spezielle Schnellgerichte eingesetzt, um Fälle von sexueller Gewalt schneller aburteilen zu können, deren Behandlung früher jahrelang dauerte. Zehn Monate nach dem Verbrechen von Neu Delhi sprach ein solches Gericht vier der Angeklagten für schuldig in allen Anklagepunkten und verurteilte sie zum Tod durch den Strang. Zuvor war ein minderjähriger Angeklagter ebenfalls schuldig gesprochen und zu drei Jahren Jugendhaft verurteilt worden, der Höchststrafe im indischen Jugendstrafrecht.

Menschenrechtsanwältin Indira Jaising (Foto: privat)
Die Menschenrechtsanwältin und juristische Beraterin der Regierung, Indira Jaising, sieht klare Fortschritte in den GesetzenBild: Indira Jaising

Dies führte zu Protesten und Diskussionen darüber, ob nicht die Altersgrenze für die Anwendung des Jugendstrafrechts herabgesetzt werden müsste. Von den sechs Angeklagten wurde nur fünf der Prozess gemacht, weil der mutmaßliche Anführer und Fahrer des Busses im Gefängnis starb, er soll Selbstmord begangen haben.

Frauen gehen an die Öffentlichkeit

Die breite Berichterstattung hat nach Meinung von Beobachtern das Thema sexuelle Gewalt gegen Frauen stärker ins Bewusstsein der indischen Öffentlichkeit gerückt. "Frauen sind jetzt eher bereit, Angriffe gegen sie anzuzeigen. Ihre Position ist durch die Gesetzgebung und durch die Zivilgesellschaft gestärkt worden", sagt Jaising. Der am Verfassungsgericht zugelassene Rechtsanwalt K. T. S. Tulsi sagte der DW, dass die mit einer Vergewaltigung einhergehende gesellschaftlichen Ächtung weniger stark sei als früher. "Junge Frauen zeigen immer mehr Selbstbewusstsein und scheuen nicht davor zurück, mit ihren Anliegen an die Öffentlichkeit zu gehen. Eine sehr positive Entwicklung." Nach Angaben lokaler Medien wurden bis Oktober dieses Jahres 1330 Vergewaltigungen bei der Polizei in Neu Delhi angezeigt. Im Vorjahreszeitraum waren es 706 Fälle.

One Billion Rising Aktion gegen Gewalt gegen Frauen (Foto: Reuters)
Mehr Frauen in Indien bringen ihre Stimme zu Gehör - aber noch nicht genugBild: Reuters

Thema der Medien

Auch in den indischen Medien ist das Thema Gewalt gegen Frauen und sexuelle Belästigung weiterhin in den Schlagzeilen. Besonders viel Aufsehen erregte die Verhaftung des Chefredakteurs des führenden indischen investigativen Magazins, "Tehelka", Ende November. Eine Kollegin hatte ihn wegen versuchter Vergewaltigung angezeigt. Zuvor hatte eine Praktikantin eine ähnliche Anschuldigung gegen einen Verfassungsrichter im Ruhestand erhoben.

Auch die Filmindustrie des Landes hat das Thema entdeckt. Im Dezember soll der Streifen "Kill the Rapist?“ in die indischen Kinos kommen. Erklärte Absicht der Produzenten ist es, Frauen zu ermuntern, Angriffe und Vergewaltigungen anzuzeigen. Aber der Film soll laut seiner Facebook-Seite noch mehr bewirken: "Jeder potenzielle Vergewaltiger soll vor Angst schlottern, bevor er überhaupt daran denkt, eine Frau zu vergewaltigen."

Gesellschaftliches Bewusstsein hinkt hinterher

Aller medialen Aufmerksamkeit zum Trotz sind patriarchalische Vorstellungen in Indien tief verwurzelt. Nach einem UNICEF-Bericht von 2012 halten 57 Prozent der indischen Jungen und 53 Prozent der Mädchen den Ehemann für berechtigt, seine Frau zu schlagen. Entscheidend ist für Ranjana Kumari vom Sozialwissenschaftlichen Institut (CSR) in Neu Delhi Aufklärung und Erziehungsarbeit schon von früh an. "In Grund- und weiterführenden Schulen und am Arbeitsplatz müssen die Menschen über Frauenrechte aufgeklärt werden. Wir brauchen Initiativen auf lokaler Ebene, um eine Gesellschaft aufzubauen, die von Gleichberechtigung und Respekt zwischen den Geschlechtern gekennzeichnet ist", sagt die Menschenrechtsaktivistin der DW.

Schulklasse in Indien (Foto: AP)
Neue Einstellungen fallen nicht vom Himmel, sondern müssen von unten wachsenBild: AP

Kaimini Jaiswal, ein anderer am Verfassungsgericht zugelassener Rechtsanwalt, weist auf eine weitere Hürde für eine Verbesserung der Stellung der indischen Frauen hin: mangelnde Bildung. "Was wir in den Großstädten und U-Bahnen sehen, ist nicht das ganze Bild. In den meisten Familien in Indien können die Frauen ihre Stimme gar nicht zu Gehört bringen. Wie sollen die Frauen ihre Rechte kennen, wenn sie noch nicht einmal lesen und schreiben können?"