Indiens Imageproblem
19. März 2013Sie wollten Indien mit eigenen Augen entdecken und starteten eine Fahrradtour von Mumbai in die Hauptstadt Neu Delhi. Auf dem Weg von der Tempelstadt Orcha zum Taj Mahal in Agra entschloss sich das Paar, in einem Wald zu campen. Gegen Abend wurde es von sieben bis acht unbekannten Männern überfallen und die Frau vor den Augen des Ehemanns vergewaltigt. Nun stehen fünf indische Männer vor Gericht, während sich das traumatisierte Paar in Neu Delhi von dem Schock erholt.
Zu viele Männer, zu wenig Frauen
Die Region des Tatorts ist in Indien bekannt für die hohe Kriminalität und das ungleiche Geschlechterverhältnis. Auf 1000 Männer kommen lediglich 930 Frauen. Der landesweite Durchschnitt liegt bei 1000:940. Nach Statistiken vom Nationalen Kriminalamt Indiens werden in der Region täglich neun Vergewaltigungsfälle registriert.
Deepankar Gupta, emeritierter Soziologie-Professor an der Jawaharlal-Universität in Neu Delhi, glaubt, dass die hohe Anzahl der sexuellen Belästigungen im Norden Indiens mit dem ungleichen Geschlechterverhältnis im Zusammenhang steht: "Einen Stammhalter, Erbschaftsregelungen und nicht zuletzt die hohen Kosten für Hochzeiten, die von Brautfamilien zu tragen sind – all das sind Gründe, warum Jungen in Indien bevorzugt werden", sagt Gupta der Deustchen Welle.
"Frauen sollen sich unterordnen"
Die Art und Weise, wie Jungen in Indien erzogen werden, führe zu ihrer verzerrten Wahrnehmung über Indiens Gesellschaft, glaubt Gupta: "Männer sind überlegen, Frauen müssen unterordnen. Die Jungen sind mit dieser Ethik aufgewachsen." Dazu kämen andere im Norden allgegenwärtige Probleme wie Arbeitslosigkeit und Alkoholabhängigkeit, die oft zu großer Frustration führten. In den nördlichen Bundesstaaten wie Haryana soll eine Gruppe von Männern gezielt Frauen in den nordöstlichen Regionen entführt und gekauft haben, um sie zu heiraten.
Gupta räumt auch ein, dass das ungleiche Verhältnis zwischen Mann und Frau nicht immer der Hauptgrund für sexuelle Überfälle sei. Die indischen Männer sind von einer besonderen Mentalität getrieben: "Sie wollen Macht demonstrieren. Männer versammeln sich, um anzugeben, sehen die Frauen als untergeordnet an und üben anschließend Gewalt aus."
Touristen müssen kulturelle Unterschiede achten
Eine Deutsche, die in Indien sieben Jahre gelebt hat, sagt, dass sie zweimal überlegt, bevor sie draußen zeltet, vor allem in den Problembundesstaaten. "Das Schweizer Ehepaar hat Abenteuer nicht gescheut und das Risiko falsch kalkuliert. Ich würde keinem Touristen empfehlen, überall in Indien zu campen. Ich würde mich unsicher fühlen, da immer die Gefahr eines Überfalls besteht."
Nach langjährigen Erfahrungen im Land hat die Deutsche, die anonym bleiben möchte, Dinge aufgelistet, was man lieber lassen sollte: "Ich gehe nicht allein im Dunkeln, ich vermeide die menschenleeren Straßen. Tief in der Nacht verzichte ich auf öffentliche Verkehrsmittel und werde von Freunden begleitet. All das gibt mir Sicherheit."
Tourismus leidet
Der Fall des schweizerischen Ehepaars erinnert an einen anderen Vergewaltigungsskandal im Dezember 2012, der weltweit Aufmerksamkeit erregt hatte. Eine 23-Jährige wurde in der Hauptstadt in einem fahrenden Bus von fünf Männern vergewaltigt. Die Täter konnten gestellt werden und stehen nun vor Gericht. Viele Aktivisten fordern schon jetzt die Todesstrafe.
Touristen werden zur besonderen Vorsicht aufgerufen. Das Auswärtige Amt weist Reisende, vor allem Frauen, vor dem Hintergrund zuletzt vermehrt berichteter sexueller Übergriffe darauf hin, dass sie "sich stets von Vorsicht leiten lassen" sollen. Auch amerikanische und englische Auslandsvertretungen halten Urlauber dazu an, vorsichtig zu sein.
Sunil Manocha, Inhaber eines Reisebüros in Delhi, macht sich Sorgen über den Imageverlust Indiens. "Die Zwischenfälle schrecken Touristen ab", sagt Manocha der Deutschen Welle. Schlimmer sei für Manocha, dass viele Fälle gar nicht aufgeklärt werden konnten. Die Polizei könne die Schwerkriminalität nicht effizient genug bekämpfen. Die Täter und Fahnder hätten dieselbe Mentalität – und diese müsse dringend verändert werden.
Die Fälle der jüngsten Vergangenheit gingen um die Welt und haben Angst geschürt. Deswegen haben viele Touristen ihren Urlaub in Indien abgesagt, zum Teil auch aus Protest und Verärgerung.