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Entscheidende Wahl?

Sarah Mersch, Tunis/Douz, Tunesien26. Oktober 2014

Tunesien wählt diesen Sonntag zum ersten Mal nach dem Umbruch 2011 ein reguläres Parlament. Doch viele Bürger wissen noch nicht, ob oder für wen sie ihre Stimme abgeben werden.

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Bild: Sarah Mersh

Tief hängen die Regenwolken über dem Himmel von Douz, einer Kleinstadt im Südwesten Tunesiens. "Das Tor zur Wüste" wird Douz gerne genannt, meistens brennt die Sonne hier auf die Reisenden herunter. Früher haben die Touristen auf dem Weg in die Sahara in der 30.000 Einwohner-Stadt Pause gemacht, seit dem politischen Umbruch 2011 kommen sie kaum noch.

"Sie haben Angst vor Entführungen, dabei ist doch hier nie etwas passiert", sagt Am Sadok achselzuckend. Seit 52 Jahren repariert er in seinem winzigen Laden am Marktplatz Schuhe und Taschen. Er hat schon einige Machthaber kommen und gehen sehen.

Ali Larayedh, der heute auf dem Marktplatz eine Rede hält, war in den letzten zwei Jahren erst Innenminister, dann Ministerpräsident. Er ist eines der bekanntesten Gesichter der islamistischen Ennahdha-Partei. Rund 500 Zuhörer sind zur Wahlkampfveranstaltung gekommen und harren im Nieselregen aus. Larayedh spricht vom Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, wirtschaftlicher Entwicklung im Landesinneren, der Aufarbeitung der Verbrechen zu Zeiten der Diktatur. Er selbst saß unter Machthaber Zine El Abidine Ben Ali lange im Gefängnis, davon 10 Jahre in Einzelhaft.

Wählen gehen oder nicht?

Menschen auf einem Platz Copyright: Sarah Mersh
Ennahdha Anhänger bei einer Wahlveranstaltung in DouzBild: Sarah Mersh

"Das war eine ehrliche, sehr konkrete Rede, so sollte Wahlkampf sein", findet Saad Ben Ahmed, der aus einem kleinen Dorf in der Nähe kommt. Er hat sich bereits entschieden, am Sonntag werde er bei den Parlamentswahlen für die Islamisten stimmen. "Die sind sauber! Sie wollen die Situation in Tunesien verbessern und wirtschaften nicht in ihre eigene Tasche," so wie es die Herrschenden früher getan hätten.

"Das ist doch alles nur Blabla", entgegnet Chiheb Nasr, der einen Großhandel für Kosmetikprodukte führt. "Die Leute interessieren sich nicht mehr für Politik, weil wir seit der Revolution nur leere Versprechen gehört haben, aber sich de facto nichts getan hat." Zur Wahl zu gehen findet er eigentlich wichtig, doch kann er sich nicht entscheiden, für wen er stimmen soll. "Eigentlich finde ich meine Ideen in keinem Programm wirklich vertreten."

Ennahdha war 2011 als stärkste Kraft aus den Wahlen zur Verfassungsversammlung hervorgegangen. Sie galten als ehrlich, da gottesfürchtig und Opfer der ehemaligen Diktatur. Vor drei Jahren hatte das den Islamisten viele Stimmen eingebracht, doch schnell mussten sie lernen, dass Regierungsverantwortung auch einen Imageverlust mit sich bringt. Die erhofften schnellen Verbesserungen für die Bevölkerung blieben aus, Angriffe mutmaßlicher radikalislamischer Kämpfer auf die amerikanische Botschaft im September 2012 und die Morde an zwei tunesischen Oppositionellen im Februar und Juli 2013 stürzten die Koalitionsregierung um Ennahdha in eine tiefe Krise. Nach monatelangen zähen Verhandlungen erklärten sie sich zum Rücktritt bereit - ein kluger Schachzug, wie sich herausstellte.

Inzwischen hat sich der Ruf der Partei erholt, Tausende erscheinen zu den Wahlkampf-Terminen. Denn zurückzutreten, obwohl man legitim gewählt wurde, dies sei der Beweis, dass es möglich sein, Islam und Demokratie zu vereinen, wiederholt Ennahdha fast gebetsmühlenartig.

Wird Ennahdha von der Vergangenheit eingeholt?

Wahlplakate an einer Mauer Copyright: Sarah Mersh
Die Qual der WahlBild: Sarah Mersh

Alles Fassade, wirft Ennahdha ihr stärkster politischer Gegner, Nidaa Tounes (Der Ruf Tunesiens), vor. Ennahdha plane eigentlich, die Gesellschaft zu islamisieren, der Partei sei nicht zu trauen. "Wer nicht für Nidaa Tounes stimmt, stimmt für Ennahdha", ruft Parteivorsitzender Beji Caid Essebsi seinen Anhängern in Hammam Lif, einem Vorort der Hauptstadt Tunis entgegen. Der 87-jährige Gründer der Partei, die sich als säkularer Gegenpol zu den Islamisten positioniert, möchte auf seine alten Tage hin noch Präsident werden. Seine Partei vereint vom linken Spektrum bis zu ehemaligen Kadern der inzwischen aufgelösten RCD-Partei Ben Alis ein breites politisches Spektrum.

Zu weit, meinen viele Wähler, denen die Rückkehr der alten Garde durch die Hintertür nicht passt. "Ich bin nur hergekommen, um mir das mal anzuschauen, aber wählen werde ich Nidaa Tounes garantiert nicht", erzählt der Mittzwanziger Selim, der den Wahlkampftrubel aus der Ferne beobachtet. "Die erinnern mich zu sehr an die Zeit unter Ben Ali."

Beide großen Parteien kündigen unterdessen vollmundig an, mit mindestens einem Drittel der Stimmen zu rechnen. Für die Regierung reicht das nicht. Königsmacher könnte die "Freie Patriotische Union" des Geschäftsmannes und Vorsitzender eines großen Fußballvereins, Slim Riahi, werden. Kräftiges Klinkenputzen im Wahlkampf könnte seine Partei zur drittstärksten und entscheidenden Kraft im neuen Parlament machen. Oder aber Ennahdha und Nidaa Tounes teilen sich den Kuchen auf, sagen Beobachter voraus, denn die beiden konservativ-liberalen Parteien haben mehr gemeinsam, als viele Anhänger wahrhaben wollen. Während Nidaa Tounes' Parteichef Essebsi im November im Rennen um die Präsidentschaft antritt, konzentriert sich Ennahdha auf das Parlament - eine Aufteilung der Macht wäre also ein durchaus plausibles Szenario.

Während die Ergebnisse der Parlamentswahl Mitte kommender Woche erwartetet werden, wird der Kampf um das Präsidentenamt wohl in die zwei Runde gehen. 27 Kandidaten haben sich für die Wahlen am 23. November aufstellen lassen, eine mögliche Stichwahl wird Ende Dezember stattfinden.