Die autoritäre Versuchung wächst
1. Dezember 2019Der brasilianische Wirtschaftsminister Paulo Guedes ist nicht bekannt für zögerliches Verhalten. Doch bei seinem Auftritt in Washington diese Woche überraschte Guedes mit einer Rückzugsstrategie: Das erst vor drei Wochen vorgestellte umfassende Reformpaket für den Staatsapparat und das Steuersystem habe er erstmal gestoppt - wegen der Proteste in den Nachbarländern in Südamerika: "Wir wollen keinen Vorwand liefern, dass die Menschen auf die Straße gehen", soll Guedes nach Angaben der Tageszeitung "Estado de São Paulo" zerknirscht gesagt haben. "Lasst uns erst mal verstehen, was da los ist."
Damit ist nun auch in Brasilien das letzte umfassende Reformvorhaben einer Regierung in Südamerika gestoppt worden: Zuvor haben die Regierungen in Ecuador und Chile angesichts der massiven Demonstrationen ihre Reformen zurückgedreht. In Kolumbien protestieren nun ebenfalls die Menschen unter anderem auch gegen die Rentenreform.
Reformvorhaben verstärken Proteste
Die Reformen waren nicht die direkten Auslöser für die Proteste in den Ländern. Das waren andere Gründe, wie Fahrpreis- oder Benzinpreiserhöhungen oder mögliche Wahlmanipulationen. Dennoch haben die laufenden Reformprojekte in den Ländern die Proteste verstärkt: Denn diese zielen meist darauf, die hohen Defizite in den Staatshaushalten zu reduzieren, der Grund für Inflation und Überschuldung. Dafür wollen die Regierungen einerseits die Rentensysteme reformieren, die immer weniger zu bezahlen sind.
Andererseits zielen die Reformen auch darauf, die Wirtschaft produktiver zu machen und den Staatsapparat zu verkleinern. Auf den Indizes der Produktivität weltweit hinken die südamerikanischen Ökonomien sowohl hinter den Industriestaaten als auch den schnell wachsenden Ländern in Fernost hinterher. Die südamerikanischen Unternehmen und die Arbeitnehmer sind wenig wettbewerbsfähig auf dem Weltmarkt. Ähnlich steht es um die öffentlichen Dienstleistungen der Staaten bei Bildung, Gesundheit, Infrastruktur und Sicherheit.
Bremse für das Wachstum
Von daher machen Reformen nicht nur Sinn - sie sind auch dringend notwendig, damit Südamerika nicht weiter den Anschluss an die Weltwirtschaft verpasst. Dieses Jahr ist Südamerika der Kontinent, der am wenigsten gewachsen ist. Und die sozialen Proteste werden das Wachstum noch weiter ausbremsen.
Das Problem der Reformen ist jedoch: Die konservativen Regierungen in Brasilien, Chile und Kolumbien wollen zwar die Kosten der Streichungen im Staatsbudget auf möglichst viele verteilen - bei den Privilegierten schrecken sie jedoch vor Einschnitten zurück. Sie wollen zudem vor allem unternehmerfreundliche Maßnahmen umsetzen. Eines der zentralen Wahlkampfversprechen von Präsident Sebastián Piñera - selbst Unternehmer und einer der reichsten Chilenen - war es, die Unternehmenssteuerreform seiner Vorgängerin Michelle Bachelet wieder teilweise rückgängig zu machen. Vielen Chilenen erschien Piñeras Kabinett wie eine Interessengemeinschaft der Unternehmerelite des Landes.
Auf dem sozialen Auge blind
Auch in Brasilien hat die Regierung zwar die durchaus veralteten Arbeitsgesetze flexibilisiert und die Renteneintrittsalter erhöht - doch die Privilegien der Militärs bleiben unangetastet. Streichungen bei den hochprivilegierten Beamten werden ihr kaum gelingen. Die konservativen Regierungen Südamerikas sind bei ihren Reformen auf dem sozialen Auge blind und wagen sich nicht an die Pfründe der Eliten heran - zu denen sie ja selber zählen. Das macht Reformprozesse zusätzlich unglaubwürdig.
Die Gefahr droht jetzt, dass die Versuchung in den Staaten steigt, die gescheiterten oder gestoppten Reformen autoritär durchzusetzen. In Südamerika gibt es durchaus die Tradition, das Militär einzusetzen zur "Sicherung der öffentlichen Ordnung", was sich oftmals gleichsetzen lässt mit "Sicherung der Interessen der Elite".
In Washington polterte Minister Guedes jetzt sichtlich entnervt los, dass es angesichts der Proteste kein Wunder sei, wenn jetzt bald wieder nach einem autoritären Ermächtigungsgesetz wie unter der Diktatur vor rund 50 Jahren gerufen würde.