In schlechter Verfassung
28. Mai 2005Wie war noch mal der Unterschied zwischen qualifizierter und einfacher Mehrheit? Eins ist sicher: Das gleiche ist das nicht. Eine qualifizierte Mehrheit liegt bei mehr als 50 Prozent der abgegebenen Stimmen (meist zwei Drittel, gelegentlich drei Viertel der Stimmen). Einfache Mehrheit heißt dagegen, eben einfach mehr Stimmen als alle anderen haben. Ein kleiner, doch bedeutender Unterschied. Den hatten die polnischen Übersetzer bei der Translation der EU-Verfassung in der Eile übersehen.
Schwerwiegende Flüchtigkeitsfehler
Stress hatten sie allemal: Die EU-Verfassung ist gespickt mit Fachausdrücken, Bürokratensprache und Schachtelsätzen und dann auch noch ein Opus von 500 Seiten. Am Ende hat sich die Eile nicht gelohnt. Stattdessen Zorn und Empörung: In Polen muss die Ratifizierung wegen der Fehler in der Verfassung verschoben werden. Der Sejm könne nicht über Verfassungsregelungen debattieren, die der Originalfassung widersprechen - und zwar in den wichtigsten Punkten, nörgelte der Abgeordnete und frühere Verteidigungsminister Bronislaw Komorowski. Nicht mehr wie geplant soll nun am Tag der Präsidentschaftswahl am 9. Oktober 2005 abgestimmt werden, sondern drei oder vier Monate später.
Derweil nimmt die "Euphorie" der Polen für die EU ab. Die Regierung hatte sich dabei doch alles so schön zurechtgelegt. Beide Abstimmungen sollten an einem Tag stattfinden. Dadurch erhoffte man sich eine hohe Wahlbeteiligung, bei der die magische Grenze von 50 Prozent deutlich hätte überschritten werden sollen.
Letten sehen über Fehler hinweg
In Lettland schafften es die Übersetzer gar 500 Fehler einzubauen, davon 160 schwer wiegende. Schuld an den vielen Fehlern soll die Überlastung der lettischen Übersetzer in Brüssel gewesen sein, entschuldigt sich das Außenministerium. Hier drückt man aber zwei Augen zu: Da die Übersetzer den Inhalt nicht verfälscht hätten, soll der Vertrag dennoch dem Parlament zur Ratifizierung vorgelegt werden. Nur so könne der Zeitplan der EU eingehalten werden, erklärte Außenminister Artis Pabriks.
Hat man etwa dabei etwa gedacht, die Bürger würden sowieso nicht so genau hinschauen? Damit läge man nicht ganz falsch. Die meisten schauen gar nicht hin, da sie nicht mal wissen, dass es die EU-Verfassung gibt. Die Parlamente Litauens und Ungarns waren die ersten, die die EU-Verfassung ratifizierten. Das war Ende 2004. Ein Drittel der EU-Bürger hatte zu diesem Zeitpunkt noch nie etwas von der EU-Verfassung gehört.
Am wenigsten Information drang auf die Insel Zypern: 65 Prozent fragten, EU-Verfassung, wie bitte? Und die Deutschen? Die Pisa-Studie lässt grüßen. Ein Drittel der Deutschen konnte nichts mit dem Begriff EU-Verfassung anfangen.Dabei bietet die EU doch bergeweise Informationsmaterial, didaktisch sehr gut aufbereitet, in der Regel kostenlos, im Internet frei verfügbar Doch offenbar will das keiner haben.
Die tschechische Regierung geht deshalb in die Offensive. Dort soll voraussichtlich im Juni 2006 über die Verfassung abgestimmt werden. Eine Kampagne soll ab Juni 2005, die Bürger über die EU-Verfassung aufzuklären. In der ersten Phase der Kampagne will die Regierung etwa 100.000 Exemplare der Verfassung kostenlos an die Bevölkerung verteilen. Dünner und spannender wird das Opus deshalb aber auch nicht.
Panik vor dem Referendum
Man könne ja auch mal "ganz anders" für die EU-Verfassung werben, dachten sich deshalb vielleicht manche Polit-Marketing-Strategen. In den Niederlanden, wo derzeit die Zahl der Gegner der EU-Verfassung immer mehr zunimmt, ließ der EU-Abgeordnete Jules Maaten von der liberalen Partei VVD einen Fernsehspot ausstrahlen, in dem mit Bildern vom Holocaust, von den Kriegsverbrechen in Bosnien und von den Terroranschlägen in Madrid für ein Ja zur EU-Verfassung geworben werden. Das ging gründlich in die Hose: der Spot wurde nach heftigen Protesten zurückgezogen.