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In Russland nimmt Gewalt gegen Frauen in den Familien stark zu

17. Juli 2002

- Menschenrechtsbeauftragter auch über Verschlechterung der Lage der Kinder besorgt

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Moskau, 16.7.2002, NOWAJA GASETA, russ., Maria Klimko

Der Bericht über die Tätigkeit des Menschenrechtsbeauftragten der Russischen Föderation, Oleg Mironow, im Jahr 2001 ist ein mehrere Hundert Seiten dickes Dokument, in dem ausführlich und genau Tausende Situationen beschrieben werden, die mit den Menschenrechten zu tun haben. Solch ein Bericht ist etwas Neues in Russland – noch vor kurzem wurden ähnliche Dokumente von einzelnen Menschenrechtlern oder Herausgebern der "Chronik des Zeitgeschehens" auf eigene Gefahr erstellt, die das Risiko eingingen, dafür hinter Gitter zu landen. Um so interessanter ist es mal zu sehen, wie ein Staatsbeamter die Arbeit macht, die vorher von Menschenrechtlern gemacht wurde...

Im Vergleich zu den vorausgegangenen Berichten wird hier besondere Aufmerksamkeit Problemen gewidmet, die für die gegenwärtige russische Gesellschaft neu sind: Gewalt gegen Frauen, die Verletzung der Rechte und gesetzlichen Interessen der Kinder, die Lage der Behinderten, die Rechte der Militärangehörigen und deren Familien, der Schutz der Opfer von Terroranschlägen, die Lösung von Migrationsproblemen, die Rechte der kleinen Völker des Nordens, Sibiriens und des Fernen Ostens. All diese Probleme sind seit langem bekannt, auf zwei davon ist jedoch bis jetzt kaum in unserer Gesellschaft eingegangen worden – Gewalt gegen Frauen und die Verletzung der Rechte der Kinder.

Nach Angaben des Innenministeriums der Russischen Föderation ist am meisten die Gewalt gegen Frauen in den Familien verbreitet – sexuelle, psychische und physische. Die Zahlen im Bericht sind deprimierend. Es stellte sich heraus, dass jährlich 14 000 Frauen von ihren eigenen Männern getötet werden, 2000 Selbstmord begehen. Wenige suchen Schutz bei den Machtorganen – nur fünf bis zehn Prozent der Frauen erstatten jedoch Anzeige bei der Polizei. Nur in drei Prozent der Fälle kommt es zur Gerichtsverhandlung.

Eigentlich wundert das niemanden – ist es doch in unserem Land nicht üblich, schmutzige Wäsche vor allen Leuten zu waschen. Immer noch (Gott sei Dank jedoch seltener) ist zu hören: "Wenn er sie prügelt, dann liebt er sie." Außerdem gibt es bei uns sehr wenig Einrichtungen, die sich mit dem Schutz der Rechte der Frauen beschäftigen. (Derzeit gibt es im Land acht staatliche Krisenzentren und etwas über 30 gesellschaftliche Zentren).

Vergewaltigungen sind in Russland "nicht so neu" wie die Gewalt in der Familie. Nach Angaben des Justizministeriums Russlands werden jährlich 6000 bis 7000 Personen wegen Vergewaltigung verurteilt, die tatsächliche Zahl der Vergewaltigungen sei jedoch fünf bis zehn Mal höher. Und wieder schweigen die Frauen...

Ganz unerwartet für viele tauchte im Bericht des Menschenrechtsbeauftragten das Problem Menschenhandel, besonders Handel mit Frauen und Kindern, auf. UNO-Angaben zufolge ist aus Russland eine halbe Million Frauen verkauft worden. Das ist kein Einzelfall mehr, dass ist eine Erscheinung, die von Russland als einem Land sprechen lässt, wo es den Menschenhandel nicht nur einfach gibt, sondern wo dieser blüht. Gesetze, die diese Frage regeln würden, gibt es nicht. Erst Ende 2000 unterzeichnete Russland das Protokoll über die Vorbeugung und Unterbindung des Menschenhandels, das die UNO-Konvention gegen die transnationale und organisierte Kriminalität ergänzt.

Eine prinzipielle Lösung dieses Problems sehen die Verfasser des Berichtes in der Änderung des öffentlichen Bewußtseins und der Bildung neuer öffentlicher Meinung bezüglich der Lage der Frauen in der Gesellschaft. Aus dem Bericht geht hervor, dass Gewicht auf die aktive Tätigkeit gesellschaftlicher Wohltätigkeitsorganisationen unter formaler staatlicher Unterstützung und die breite Darstellung dieser Probleme in den Massenmedien gelegt werden muss.

Was die Kinder angeht, so stehen die Waisenkinder, obdachlose Kinder (die sogenannten "sozialen Waisenkinder") und behinderte Kinder im Mittelpunkt des Berichtes. Einfache Lösungen gibt es nicht. Es ist nämlich so, dass – nach offizieller Statistik - von 700 000 Waisenkindern nur fünf Prozent echte Waisenkinder sind, die übrigen 95 Prozent sind Waisenkinder, obwohl deren Eltern am Leben sind. Obdachlose Kinder gibt es unterschiedlichen Angaben zufolge zwischen drei und fünf Millionen in Russland.

Die Maßnahmen, die der Menschenrechtsbeauftragte in seinem Bericht vorschlägt, sind allein, ohne einheitliche Staatspolitik, kaum geeignet, die Situation prinzipiell zu ändern. Im Bericht wird zum Beispiel vorgeschlagen, für die Minderjährigen in Moskau und Sankt Petersburg eine Polizeistunde einzuführen (ab 23:00 Uhr). Ob diese Maßnahme Sinn hat, ist eine Frage für sich. Bevor man eine Antwort darauf gibt, muss man jedoch überlegen, ob unsere Rechtsschutzorgane über Kräfte und Mittel verfügen, das durchzusetzen. Im Bericht wird des Weiteren vorgeschlagen, die Adoption von Waisenkindern zu vereinfachen, unter anderem den künftigen Adoptionseltern die Möglichkeit zu geben, mehr Zeit mit dem Kind zu verbringen, damit beide Seiten sich vor dem juristischen Prozedere besser kennenlernen. (...)

Große Besorgnis ruft bei den Verfassern des Berichtes (und dessen Lesern) die Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Kinder hervor, darunter ihres psychischen Zustandes. Das Gesundheitsministerium Russlands veröffentlichte Angaben, gemäß denen 66 Prozent der Kinder und Jugendlichen psychisch gestört sind. Die Zahl der behinderten Kinder habe sich in den letzten Fünf Jahren verdoppelt, die Heime seien überfüllt, es mangele an medizinischem Personal und Finanzmitteln.

Das Problem mit der Einhaltung der Rechte der Kinder ist so kompliziert und uneindeutig, dass die Verfasser des Berichtes vorschlagen, für deren Lösung Jugendgerichte einzuführen, wie es im vorrevolutionären Russland der Fall war (Russland war einer der ersten Staaten, wo diese bereits 1910 eingerichtet wurden) sowie ein Amt des Bevollmächtigten für die Rechte der Jugendlichen.

Wie seltsam es auch erscheinen mag, aber im Bericht wird die Gewalt gegen Kinder in der Familie gar nicht angesprochen, obwohl die Erfahrungen ausländischer Staaten zeigen, dass dieses Problem sehr verbreitet ist und sich in der modernen Gesellschaft nur schwer lösen lässt, da es die Privatsphäre betrifft, die eher von moralischen Normen als juristischen Vorschriften geregelt wird.

Die Lage der Frauen und Kinder, wie sie im Bericht geschildert wird, ruft die entsprechende Reaktion hervor – Entsetzen, Erschütterung, den Wunsch zu helfen. Hat es jedoch Sinn, die Frauen und Kinder als einzelne Kategorien hervorzuheben? Ist das nicht eine verschleierte Form von Diskriminierung einerseits der Frauen und Kinder und andererseits der Männer? Ist es denn so wichtig, gegen wen Gewalt angewandt wird – gegen Kinder, Frauen, Männer oder gegen Flüchtlinge und Behinderte? Das ist ein einheitliches Problem – Gewalt gegen den Menschen. (lr)