In den Fängen der Familie
13. Januar 2021Woher er gerade kommt, will der 49-Jährige nicht sagen. Nur so viel, er war einige Stunden mit dem Zug unterwegs. Nun sitzt er in einem leeren Restaurant im Zentrum von Bologna.
Wo Luigi Bonaventura sich normalerweise aufhält, soll niemand wissen. Der Mann, der vor 13 Jahren seine kriminelle Familie verlassen und seitdem hunderte Mafiosi hinter Gitter gebracht hat, lebt gefährlich. Er ist nervös und die Anspannung fällt nur langsam von ihm ab. Er sei erschöpft von der Reise, sagt der Aussteiger. Bonaventura ringt nach Luft und greift nach seiner Wasserflasche. Als er sich gesammelt hat und anfängt zu sprechen, ist er aber kaum noch zu bremsen. Sein Gewissen belastet ihn. Es ist ein Leben voller Horror, das ihn auch nachts im Traum nicht mehr loslässt. "Am nächsten Morgen wache ich auf und sage mir: Ich muss kämpfen und besser werden."
Entscheidend für seinen Kampf dürfte auch der Beginn des Mammutprozesses gegen die Ndrangheta sein, die kalabrische Mafia, der Luigi Bonaventura mehr als die Hälfte seines Lebens angehörte. In Lamezia Terme, einer Stadt in der süditalienischen Region Kalabrien, werden in den kommenden zwei Jahren Hunderte Angeklagte vor Gericht gestellt werden. Zu ihnen zählen Anwälte, Politiker und Geschäftsleute. Mafiosi und ihre Komplizen. Bonaventura kennt viele von ihnen aus seiner Vergangenheit und wird selbst in den Zeugenstand treten.
Global vernetzte Organisationen
Die Ndrangheta gilt als besonders gefährlich und schwer zu überwachen. Das habe einen Grund, erklärt der Ex-Mafioso. Im Schatten könnten sich die Mitglieder frei bewegen und deswegen seien sie auch so schwer zu stoppen.
Die Ndrangheta ist weniger als Organisation zu verstehen, sondern viel mehr als eine Art Kultur, ein loses Netzwerk aus einzelnen, mit- und teilweise gegeneinander agierenden Familienclans, die nach ihren eigenen gesellschaftlichen Regeln leben. Ihre Geschäfte gehen weit über die Grenzen der Region Kalabrien hinaus.
Früher verdienten sie Geld unter anderem mit Entführungen, heute ist ihr Vorgehen weniger auffällig. Im wirtschaftlich stärkeren Norden Italiens macht die Ndrangheta viel Geld mit staatlichen Aufträgen, vor allem im Baugewerbe. Aber auch international ist die Ndrangheta bestens vernetzt. Aus Lateinamerika beispielsweise schmuggelt sie den Großteil des Kokains für den europäischen Markt. Einige der Mitglieder, denen in Kalabrien nun der Prozess gemacht wird, wurden in Deutschland verhaftet.
Kinder werden zu Soldaten erzogen
Bonaventuras Lebensweg schien von Beginn an vorgezeichnet. Wer in eine Ndrangheta-Familie hineingeboren wird, von dem wird erwartet, die Tradition fortzusetzen. Sein Großvater Luigi Vrenna zählte zu seiner Zeit zu den wichtigsten Bossen, und Bonaventuras eigener Vater machte ihn "zum Soldaten", wie er erzählt. Als Kind lernte er, wie man schießt, wie man Schmerzen aushält und Tiere tötet, um sich an die Gewalt zu gewöhnen. Waffen ersetzten für ihn Spielzeuge. "Man hat keine Kindheit."
Als junger Mann schickte die Familie ihn fort in andere Regionen Italiens, um die örtlichen Gepflogenheiten zu lernen und die lokalen Dialekte zu begreifen. Er sei ein Schläfer gewesen, wie er sagt, so wie man sie heute von der Terrormiliz IS kennt.
In den 1990er Jahren rief ihn die Familie wieder zu sich. In Kalabrien war zwischen Ndrangheta-Clans ein Krieg ausgebrochen. Der Soldat Luigi Bonaventura wurde aktiv - als Erpresser, Drogenschmuggler und Mörder. Bonaventura spricht offen über diese Zeit, aber ihm sind die Umstände wichtig. Er habe nie Unschuldige getötet, beteuert er. Es sei Krieg gewesen. In einem konkreten Fall, berichtet er, habe er an einem verfeindeten Clanmitglied Rache genommen für den Mord an einem Kind aus seiner Familie.
Es sind unter anderem diese starken Familienbande, die den Kampf gegen die Ndrangheta so schwer machen. Wenige wagen es auszusteigen und sich gegen die eigene Familie zu stellen. Vor 13 Jahren aber, nach der Geburt seines zweiten Kindes, entschloss sich Bonaventura zu diesem Schritt, unterstützt von seiner Frau. Seitdem hat er der Justiz geholfen, Hunderte von kriminellen Ndrangheta zu überführen. Für seine Taten hat er zehn Jahre im Gefängnis gesessen. Danach hat er die Aufklärungsarbeit über die Ndrangheta zu seinem Lebensinhalt gemacht. Mit seiner Frau hat er einen Verein gegründet, der sich für den Schutz von Informanten einsetzt. Er will andere ermutigen, es ihm gleich zu tun, und er möchte, dass der Staat sich besser um die Menschen kümmert, die sich von der Mafia lossagen.
Seine Generation der Ndrangheta hat weitestgehend ausgedient. Heute bilden die Mafia-Bosse die Kinder nicht mehr zu Killern aus, sondern sie investieren in Bildung. "Aus ihnen sollen Wirtschaftskriminelle gemacht werden - Banker und Anwälte", sagt Bonaventura. Er hoffe, dass der Prozess auch dazu beitragen wird, diese Strukturen offenzulegen: "Ich habe meine Träume und Energie verloren, weil ich nicht an ein Ende der Ndrangheta geglaubt habe. Aber mit diesem Prozess und der Arbeit der Staatsanwälte kann sich vielleicht etwas ändern."