Im Einsatz für Indiens Kranke und Arme
20. Dezember 2017Father Thomas ist ein charismatischer Mann. Schlaf braucht er kaum. Würde er mehr schlafen, hätte er weniger Zeit. Zeit für all diejenigen, die da draußen auf den Straßen Indiens liegen, auf Bordsteigen, zusammengekauert. In dunklen Winkeln von Bahnhöfen. Vor den Toiletten größerer Krankenhäuser. Er hätte weniger Zeit für all diejenigen, die die indische Gesellschaft gerne vergisst: die alten Armen und Kranken. Father Thomas weigert sich, sie zu vergessen.
Der 67-Jährige stammt aus Kerala. Er hat in Paris gelebt, in Zaire, im englischen Leeds. Vor über einem Jahrzehnt wurde ihm klar, dass er in seinem eigenen Land gebraucht wird, dass es dort am meisten für ihn zu tun gibt. In den rund zwölf Jahren seit seiner Rückkehr hat der Geistliche vier Hospize im indischen Bundesstaat Tamil Nadu aufgebaut. Sie zählen zu den wenigen Hospizen, die es in Indien überhaupt gibt. 750 Menschen, die keiner mehr haben wollte, haben er und sein kleines Team auf den Straßen Indiens aufgesammelt. "95 Prozent der Menschen, die wir beherbergen, zählen zu den Ärmsten der Armen des Landes", sagt er. Diese Hospize dienen der Sterbebegleitung, aber nicht nur: Manche, die hierherkommen, erholen sich auch wieder.
Auf der Suche nach Schwerkranken im Bahnhofsgewühl
Es ist sieben Uhr morgens, als Father Thomas und sein Mitarbeiter Aleks in Tambaram, einer Stadt im Vorortgebiet von Chennai, in einen alten Ambulanzwagen steigen. Ein Gefährt wie dieses wäre auf deutschen Straßen, insbesondere im medizinischen Bereich, seit Jahrzehnten nicht mehr erlaubt. Die Straßen nach Chennai sind bereits um diese Uhrzeit überfüllt. Die Luft steht. Sie ist dreckig. Einen Ventilator gibt es in der Ambulanz nicht. Nach eineinhalb Stunden ist Aleks am Bahnhof Chennais angekommen. Hier wimmelt es nur so von Menschen, die auf dem Boden sitzend auf Züge warten, die vielleicht Stunden später losfahren werden.
Inmitten dieser Menschentrauben suchen Aleks und Father Thomas nach denjenigen, die aufgrund von Alter und Gebrechen irgendwo dazwischen liegen oder die sich auf einen dürren Stock stützend durch die morgendliche Hitze schleppen. Auf der Suche nach etwas Essbarem. Etwas Geld. Auf der Suche nach etwas, von dem sie selbst nicht wissen, was es ist.
Trotz Verbots werden auch psychisch Kranke aufgesammelt
In diesem Bild taucht plötzlich eine junge Frau auf. Sie wirkt verwirrt. Father Thomas und Aleks halten sie fest. Wollen sie beruhigen. Es ist eine hübsche junge Frau. Sie sei psychisch krank, sagt der Geistliche, und irre umher. Er will sie mitnehmen, sie in die Ambulanz setzen, um sie zu schützen, sagt er. Sie schreit, schlägt um sich, läuft weg. "Wir werden sie sowieso aufsammeln, früher oder später. Leider wird sie dann wahrscheinlich schon schwanger sein", erklärt er. Schwanger, denn Frauen wie sie würden der Reihe nach vergewaltigt.
Offiziell darf Father Thomas psychisch Kranke nicht mit ins Hospiz nehmen. Das indische Gesetz verbietet das. "Wenn sie mir drohen, sage ich: Dann holt sie doch ab. Aber bislang ist noch keiner gekommen, um sie abzuholen." Father Thomas lächelt. Es ist ein merkwürdiges Lächeln.
Helfer inmitten des nackten Elends
Nach drei Stunden am Bahnhof sitzen drei Männer und eine Frau auf dem Rücksitz der Ambulanz. Die Frau glaubt, sie werde gleich erlöst. Der Mann, der neben ihr kauert, hat ein gebrochenes Bein. Ein weiterer ist kurz vorm Verhungern. Auf dem Weg zum Krankenhaus in der Nähe des Bahnhofes sammelt Aleks einen weiteren Mann von der Straße auf. Aus den Wunden an seinen Beinen tritt Eiter hervor. Seine Genitalien ragen seltsam vergrößert zwischen seinen Beinen hervor. Der letzte Mann, der noch in die Ambulanz passt und vor den Toiletten des Krankenhauses lag, hat Krebs. Dort hatte man ihn hingeschoben, sagt Aleks. Dort schöben die Krankenhäuser alle Patienten hin, die alt, krank und mittellos seien. Denn auch im Krankenhaus wolle sie keiner haben. In der Ambulanz riecht es nach Urin. Zwei Männer liegen auf dem Boden, zwischen ihren Beinen klebt Kot.
16 Uhr ist es, als der Rettungswagen vor den Toren des Ausgangspunktes hält – dem Welcome House, dem bislang kleinsten Hospiz, das Father Thomas aufgebaut hat. Die Sonne geht gerade unter. Ein paar Männer – alle ehemalige Patienten – helfen Aleks und Father Thomas dabei, die Männer und die Frau aus der Ambulanz zu hieven. Die Frau von Aleks wäscht jetzt alle von ihnen, der Reihe nach. Einigen rasiert sie die Haare ab. Im Anschluss verabreicht sie ihnen Medikamente. Das alles dauert eine gefühlte Ewigkeit. Es fehlen an jeder Ecke helfende Hände. "Keiner will diese Arbeit machen", erklärt Father Thomas.
Der Geistliche ist schweißverschmiert. Auch Aleks ist am Rande seiner Kräfte. In all den Stunden auf den Straßen gab es keine einzige Pause für die Männer. Ihr einziges Ziel war es, andere zu finden. Ihnen zu helfen. Jeden Tag sind sie auf den Straßen unterwegs. Montags bis sonntags. Es tut sonst keiner.
Der abwesende Staat
Soziale Sicherungssysteme gibt es in Indien so gut wie nicht. Nach Angaben der NGO HelpAgeIndia erhalten nur 1,6 Prozent der mittellosen Alten eine kleine Rente über das Indira Gandhi National Old Age Pension Scheme in Höhe von einigen US Dollar im Monat. Die Mehrzahl alter Menschen muss bis ins hohe Alter hinein arbeiten. Auf dem Land sind es 66 Prozent der Männer und immerhin beinahe jede dritte Frau. Wer krank wird, hat verloren, insbesondere, wenn die eigene Familie kein Geld hat und die Krankheit des Alten zur Existenzfrage der gesamten Familie wird. Dann ist man schnell aussortiert.
Zufluchtsort Hospiz
Gegen halb sechs abends steigen Aleks und Father Thomas nochmals in den Ambulanzwagen. Zwei Stunden später erreichen sie eines der größeren der vier Hospize im kleinen Dorf Paleswaram, das inmitten eines Vogelschutzgebietes liegt. Der Garten des rund 250 mal 250 Meter großen Grundstücks konnte durch eine besonders großzügige Spende angelegt werden. Eine Oase der Ruhe ist entstanden. Eine Oase für 500 alte Männer und Frauen. Sieben Abteilungen reihen sich hier aneinander. Männer und Frauen liegen getrennt voneinander. Auch geistig Kranke sind von den anderen Patienten separiert.
Durch die Flure des Hospiz‘ rennen einxe Handvoll kleiner Kinder. "Das sind alles meine Kinder", sagt Father Thomas erneut mit diesem merkwürdigen Lächeln. Es seien die Kinder der psychisch kranken vergewaltigten Frauen, die er von den Straßen hierher geholt habe. Kurz nach seiner Ankunft muss er eine Predigt halten. Jeden Tag sterben hier ein bis zwei Menschen. Sie werden beerdigt, ihre Körper dekompostieren. Alles hier geht seinen Gang.