"Idee von Auffangzentren ist Kopfgeburt"
2. Juli 2018DW: Herr Meyer, wie sind die Vorschläge des EU-Gipfels in Brüssel in den Maghrebstaaten aufgenommen worden - insbesondere was die Auffanglager für Flüchtlinge auf nordafrikanischem Boden angeht?
Henrik Meyer: Mit einer Mischung aus Ablehnung und Gleichgültigkeit. Die Maghrebstaaten und insgesamt die Staaten Nordafrikas befinden sich in sehr unterschiedlichen Situationen. Damit meine ich sowohl die innenpolitische Situation als auch die Bedeutung und Rolle, die die unterschiedlichen Staaten in der Süd-Nord-Migration einnehmen. Das autoritär regierte Ägypten kämpft mit gewaltigen sozialen Verwerfungen, ist aber bislang trotzdem kein zentraler Teil der Flucht- und Migrationsbewegungen. Libyen trägt schwer an den Folgen des Staatszerfalls, in dessen Schatten sich eine unkontrollierbare und einflussreiche Schleuserszene etablieren konnte. Die junge Demokratie Tunesien bemüht sich nach Kräften um den erfolgreichen Fortgang der politischen Transformation und wirtschaftlichen Konsolidierung und hat große Sorge, stärker als bislang in migrationspolitische Streitereien hineingezogen zu werden. Diese Reihe ließe sich weiter fortsetzen. So unterschiedlich die Situation aber auch ist, eines haben alle Staaten der Region gemeinsam: Nirgendwo trifft der Brüsseler Vorschlag auf Begeisterung.
Welche Bedenken äußert man?
Die Bedenken sind grundsätzlicher Art. Die Staaten Nordafrikas haben natürlich mitbekommen, wie sich die Situation in den Hot Spots des Mittelmeers in den vergangenen Jahren dargestellt hat. Die Bilder überfüllter Flüchtlingslager auf Lampedusa, Lesbos und Malta sind auch in den hiesigen Medien abgedruckt und von den hiesigen Fernsehsendern ausgestrahlt worden. Niemand ist daran interessiert, solche Bilder im eigenen Land zu reproduzieren. Zwar ist die Debatte in den Ländern der Südseite des Mittelmeers gesellschaftlich nicht annähernd so aufgeladen wie in Deutschland, aber auch hier besitzt das Thema enorme politische Sprengkraft. Kurz nachdem Anfang Juni ein Schiff vor der Insel Kerkennah sank und mindestens 76 Menschen dabei ertranken, wurde der tunesische Innenminister entlassen. Diese Episode ist nur ein Beispiel dafür, welche Brisanz das Thema für die Regierungen hat.
Welche Chancen räumen Sie entsprechenden Verhandlungen zwischen der EU und den Maghrebstaaten ein?
Sehr geringe. Es wird sicher von Land zu Land Unterschiede geben, aber die ersten Reaktionen sind eindeutig. Der tunesische Außenminister Khmaies Jhinaoui hat am Freitag noch einmal klipp und klar gesagt, dass Tunesien unter keinen Umständen bereit sei, "Ankunftsplattformen", wie es hier genannt wird, auf tunesischem Boden zu errichten. Er wiederholte damit eine Position seines Premierministers Youssef Chahed. Dieser hatte im Rahmen seines Deutschlandbesuchs bereits im Februar 2017 gegenüber Angela Merkel auf die Gefahren für die junge Demokratie hingewiesen und gesagt, dass Tunesien für Auffangzentren keine Kapazitäten besitze. Die ersten Reaktionen aus Marokko und Algerien waren ebenso deutlich wie jene aus Tunesien. Die EU wird es schwer haben, die Staaten von der Sinnhaftigkeit ihres Plans zu überzeugen.
Wie ließen sich die Maghrebstaaten womöglich für den Plan gewinnen?
Die Idee der Auffangzentren in Nordafrika ist, ganz abgesehen von der moralischen und völkerrechtlichen Beurteilung, ganz eindeutig eine Kopfgeburt der EU, beziehungsweise einiger ihrer Mitgliedsstaaten. Hier wird eine Entscheidung von potenziell enormer Reichweite für die Staaten Nordafrikas getroffen, ohne überhaupt mit diesen Staaten gesprochen zu haben. Dieser Fehler muss schnellstmöglich behoben werden, wenn dieser oder irgendein Plan eine Chance haben soll, in Nordafrika akzeptiert zu werden. Die dortigen Regierungen haben eigene Interessen, die im Rahmen eines gemeinsamen Abkommens berücksichtigt werden müssen. Alle Staaten der Region sind etwa geprägt von einer hohen Arbeitslosigkeit - gerade von gut ausgebildeten jungen Menschen. Seit Jahren fordern die Regierungen dieser Länder, Migration für ihre Staatsbürger in die Europäische Union zu erleichtern. Eine Eindämmung der irregulären Eiwanderung muss in den Augen der Maghrebstaaten deswegen einhergehen mit einer deutlichen Ausweitung der Möglichkeiten der regulären Migration. Dass hierzu auf europäischer Ebene die Bereitschaft besteht, bezweifeln die Regierungen Nordafrikas allerdings - vermutlich zu Recht.
Wären die Staaten Ihrer Einschätzung nach überhaupt in der Lage, solche Zentren zu errichten?
Das ist prinzipiell schon denkbar - aber zu welchem Preis? Die Reaktionen der Regierungen der Maghrebländer zeigen, dass die Einrichtung solcher Zentren nur gegen massive Widerstände möglich wäre. In Tunesien etwa hat sich nicht nur die Regierung, sondern auch die organisierte Zivilgesellschaft mit dem mächtigen Gewerkschaftsdachverband UGTT klar und deutlich gegen die Idee der Auffangzentren ausgesprochen. Es ist kaum vorstellbar, dass auf tunesischem Boden Zentren errichtet werden, ohne dass die Demokratie substanziellen Schaden nimmt. In Libyen wiederum stellt sich in der Tat die Frage des Ansprechpartners. Staatliche Strukturen funktionieren nicht mehr, der EU bliebe gar nichts anderes übrig, als mit den de facto herrschenden Milizen Arrangements zu treffen. Dies ist weder rechtlich noch moralisch zu vertreten - ganz abgesehen von der Frage, ob die Sicherheit der Asylsuchenden in diesem fragilen Kontext überhaupt gewährleistet werden könnte.
Ist es denkbar, dass sich gerade in Libyen ein Deal ohne Einbindung der Milizen aushandeln und umsetzen ließe?
Klare Antwort: Nein. Die Milizen stellen die Polizei, die Küstenwache und so weiter. Jedem, der die Errichtung von Auffangzentren in Libyen fordert, sollte dies klar sein.
Wie stünde es Ihrer Einschätzung nach um die Wahrung der Menschenrechte in solchen Lagern? Könnte die EU ihren Prinzipien entsprechen?
Diese Sorge erscheint zumindest nicht ganz unbegründet. Die Gefahr besteht, dass solche Lager errichtet werden, ohne dass die Menschen dort eine realistische Chance auf Weiterreise haben. Was passiert dann mit diesen Menschen? Hier darauf zu vertrauen, dass die Regierungen Nordafrikas schon dafür sorgen werden, dass rechtsstaatliche Prinzipien eingehalten werden und alle abgelehnten Antragssteller nach geordneten Verfahren behandelt werden, ist bestenfalls naiv, gerade im Falle Libyens. Europa sollte schnellstmöglich den Austausch mit den nordafrikanischen Staaten suchen, um eine sinnvollere Lösung zu erarbeiten.
Henrik Meyer ist Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tunis.
Das Gespräch führte Kersten Knipp.