Volkskrankheit Depression
1. Dezember 2009An den 10. April 2000 erinnert sich Hannes Schuck sehr genau. Die Sonne strahlte vom blauen Himmel, ein ungewöhnlich freundlicher Frühlingstag. Es war ein Montag, an dem Hannes Schuck versuchte, sich umzubringen. Der 61-Jährige mit dem grauen Bart trägt ein schwarzes T-Shirt, eine Kette mit einem silbernen Kreuz hängt um seinen Hals. Er sitzt in seinem Wohnzimmer, im Hintergrund tickt die alte Uhr, ein Erbstück der Eltern.
Hannes Schuck schaut nachdenklich, als er erzählt, wie es damals begann mit seiner Depression: "Ich konnte mich nicht konzentrieren, besonders am Arbeitsplatz. Irgendwann wusste ich morgens, wenn ich zum Dienst kam, nicht einmal mehr, wie meine Aufgaben lauteten.“ Damals, im Jahr 1996, war Hannes Schuck Beamter bei der Post, Bereich Postbank.
Probleme am Arbeitsplatz
Es war die Zeit, in der infolge der Privatisierung das Unternehmen umstrukturiert wurde. Gewinne standen mit einem Mal im Vordergrund, Hannes Schuck wurde auf einen neuen Arbeitsplatz versetzt. Ein anderer Wind wehte von nun an durch den früheren Staatsbetrieb. Hannes Schuck erklärt das so: "Vorher nannte man uns auch "Postfamilie", und so waren wir auch, wie eine Familie." Die neuen Chefs hingegen schienen kein Interesse an so etwas zu haben: "Das Zwischenmenschliche wurde immer mehr zurückgefahren.“ Das machte Hannes Schuck zu schaffen.
Außerdem fühlte er sich als Beamter diffamiert. In der Chefetage sei man ihm mit dem typischen Klischee vom arbeitsscheuen Staatsdiener begegnet: "Es wurde einem bedeutet: Wenn ihr nicht funktioniert, dann haben wir auch noch andere Mittel, mit euch umzugehen.“
"Nachts konnte ich nicht mehr schlafen"
Der damals 48-Jährige spürte den Druck und bekam das Gefühl, seine Arbeit sei nichts wert. Seine Konzentration ließ immer mehr nach, nachts lag er wach im Bett, kam auf zwei bis drei Stunden Schlaf jede Nacht. "Eines Morgens war ich dann so weit, dass ich nicht mal den Rechner hochfahren konnte. Als auf dem Bildschirm die Eingabemaske für das Passwort erschien, saß ich da und dachte: Was will der jetzt von mir?“
Eines Tages bat sein Vorgesetzter ihn zum Vier-Augen-Gespräch, ein Schlüsselmoment für Hannes Schuck. "Dieses Gespräch werde ich meinen Lebtag nicht vergessen“, sagt er kopfschüttelnd, "ich kam mir da so vor, als hätte ich in all den Jahren überhaupt nichts geleistet.“ Der Chef konfrontierte ihm mit dem Vorwurf, trotz "hoher Intelligenz“ nicht genug zu leisten. Die Führung erwarte mehr von ihren Mitarbeitern. "Da brach wirklich eine Welt in mir zusammen", sagt Hannes Schuck leise.
"Ich schwieg aus Angst, nicht ernstgenommen zu werden"
Trotzdem machte er weiter in seinem Job, schon der Familie wegen. Schließlich hatte er mit seinem Einkommen seine Frau und zwei Kinder zu versorgen. In dieser ganzen Zeit erzählte Hannes Schuck niemandem, was mit ihm los war. Zu groß war die Angst, nicht für voll genommen zu werden. Obwohl er als Beamter unkündbar war, fürchtete er auch um seinen Arbeitsplatz: "Ich habe völlig irrationale Ängst gehabt", erinnert sich Schuck. "Ich spürte ja, dass ich nicht leistungsstark war. Also dachte ich, wenn das meine Chefs merken, schmeißen die mich raus. Und damit fahre ich auch die Familie vor die Wand."
Auch mit seiner Familie konnte er nicht über seine Ängste sprechen. Mit seiner Ehefrau stritt sich Hannes Schuck seit langem nur noch. Gegenüber seinen Kindern simulierte er Normalität, er wollte für sie der Vater sein, den sie kannten und sie nicht erschrecken mit dem, was in ihm vorging. Zu diesem Zeitpunkt steckte Hannes Schuck schon längst tief in der Depression. Stundenlang lag er auf dem Sofa und starrte an die Decke. Er hatte keinen Antrieb, aufzustehen und kein Interesse an dem, was um ihn herum passierte.
Es schien keinen anderen Ausweg zu geben
Für den 61-Jährige war damals alles, womit er früher seine Zeit verbrachte, gleichgültig. Er wollte nicht lesen, wollte nicht fernsehen, nicht Musik hören. Vor seiner Depression hatte er die Rockband ACDC gemocht, und klassische Musik von Lang Lang. Auf Konzerte war er oft gegangen. Das konnte Hannes Schuck in dieser schwarzen Phase nicht, schon der Gedanke an Menschenansammlungen war für ihn ein Gräuel. Rückblickend sagt er: "Ich hatte die Zukunft hinter mir und wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden.“
Und dann kam dieser sonnige Apriltag im Jahr 2000. Hannes Schuck wachte morgens auf und sah keinen anderen Ausweg mehr, als sich das Leben zu nehmen. Was genau er an diesem Tag tat, will er nicht erzählen. Der Tod erschien ihm in dieser Situation wie eine Möglichkeit, etwas zu ändern an seinem Leid: "So absurd das klingen mag, aber das vorrangige Ziel war für mich nicht, mein Leben zu beenden", sagt er. Es ging ihm um etwas anderes: "Ich wollte keine Sekunde mehr so leben, wie ich in den letzten Wochen, Monaten davor gelebt hatte."
Es war ein langer Weg aus der Depression
Das alles scheint heute eine Ewigkeit her. Hannes Schuck hat seine Freude am Leben mittlerweile wiedergefunden. Bis hierhin war es ein weiter Weg: Die lange Zeit auf zwei geschlossenen psychiatrischen Stationen, dazu etliche Antidepressiva und Beruhigungsmittel. Nach seiner Entlassung aus der Klinik machte Hannes Schuck mehrere Psychotherapien.
Der 61-Jährige ist heute Frührentner. Er geht wieder auf Konzerte und möchte Basketball spielen. Seit einiger Zeit leitet er eine Selbsthilfegruppe. Er unterstützt dort Betroffene, macht ihnen Mut und berichtet von seinen eigenen Erfahrungen. Vor Kurzem hat er sein altes Hobby wiederentdeckt: Wenn die Sonne scheint, fährt Hannes Schuck auf seinem neuen Motorrad durch die Landschaft.
Autorin: Brigitta Moll
Redaktion: Michael Borgas