Bildungshunger
14. November 2011Als Rianne vier Monate alt war machte sie noch einen gesunden und normalen Eindruck. Danach verlangsamte sich die Entwicklung des kleinen indonesischen Mädchens, obwohl es von seiner Mutter zweimal täglich gefüttert wurde. Die Nahrung bestand ausschließlich aus in Wasser gekochtem Reisbrei. Rianne nahm ab, im Alter von einem Jahr galt sie als untergewichtig. Und dennoch hatte sie Glück. Über ein Radioprogramm und eine lokale Ernährungsberatung wurden ihrer Mutter Grundkenntnisse vermittelt, wie sie auf einfache Weise eine gesunde Kost für ihr Kind zubereiten kann. Das war die Rettung. Das Mädchen nahm zu, entwickelte sich. In einigen Jahren wird Rianne wohl die Schule besuchen können.
Tausend Tage
Millionen Kinder in den Ländern Asiens und Afrikas haben diese Chance nicht. Der Mangel, den sie in den ersten Monaten erfahren, prägt danach ihr ganzes Leben. Kleinkinder, die in den ersten tausend Tagen nicht ausreichend ernährt werden, tragen bleibende Schäden davon, sagen Entwicklungsexperten. Für die Bekämpfung dieser Folgen bleibe nur ein enges Zeitfenster von tausend Tagen. "Die entscheidende Phase beginnt schon mit dem Tag der Empfängnis und sie reicht bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres", sagt Simone Pott von der Deutschen Welthungerhilfe. Danach ließen sich die Folgen meist nicht mehr rückgängig machen.
Millionen Kinder hungern
Der Befund ist bestürzend: Millionen der unter Fünfjährigen weltweit sind unterentwickelt. Infolge falscher oder unzureichender Ernährung leiden sie an Vitamin- und Mineralstoffmangel, Anämie, Infektionskrankheiten. Sie sind klein und dünn, haben keine Abwehrkräfte, ihre motorischen Fähigkeiten sind beeinträchtigt, sie bleiben geistig zurück. Die Welternährungsorganisation FAO verweist auf die langfristigen Folgen dieses Mangels. Schlechte Ernährung verringere die Lernfähigkeit von Kindern und damit auch ihre Aussicht, eine Schule erfolgreich abzuschließen. Fehlende eigene Fachkräfte aber bedeuteten für die betroffenen Länder auch Schwierigkeiten bei ihrer Entwicklung. Auch die Lebenserwartung der betroffenen Babys ist erschreckend gering. Drei Millionen Kinder sterben jährlich vor ihrem fünften Lebensjahr an den Folgen von Unterernährung, heißt es in einem Bericht des Roten Kreuzes.
Schatten und Licht
Besonders betroffen sind Länder in Südasien und in Subsahara Afrika. Hier leben 90 Prozent der unterernährten Kinder. In Malawi, Ruanda, Äthiopien oder Burundi sind mehr als die Hälfte aller Kinder unterentwickelt, in Bangladesh beispielweise 48%. Einen düsteren Rekord hält in Asien die aufstrebende Wirtschaftsmacht Indien mit dem weltweit größten Anteil unterernährter Kinder. Gerade in Indien aber, kritisiert Simone Pott, würden jetzt Grenzwerte gesenkt und die Zahl der Armen künstlich nach unten getrieben. So spare man bei den Sozialausgaben – und poliere am Image einer erfolgreichen Ökonomie. Es gibt aber auch gute Nachrichten. In Thailand haben sich durch gezielte Förderprogramme Gewohnheiten verändert, die Fehlernährung wurde bekämpft – mit Unterstützung der Regierung. Auch in China gelang es, das Problem zu verringern. Und in Brasilien gab es Fortschritte bei der Ernährungssituation von Kindern – auch hier durch gezielte Gesundheits- und Bildungsprojekte, finanziert von der Regierung.
Was nötig ist
Während in Industrienationen wie Deutschland übergewichtige und von allzu ehrgeizigen Eltern überförderte Kinder allmählich zu einem Problem werden mangelt es anderswo immer noch an elementaren Voraussetzungen. Entwicklungsexperten sind sich einig: wenn aus dem Hunger nach Nahrung ein stillbarer Hunger nach Bildung werden, wenn Kinder eine Chance haben sollen, muss ein ganzes Bündel von Maßnahmen greifen, das den Kreislauf von Unterernährung und Armut durchbricht. Zugang zu sauberem Trinkwasser, sanitäre Einrichtungen, Impfungen, medizinische Versorgung sind dabei wichtige Faktoren. Rudi Tarneden, UNICEF Deutschland, verweist auf die Kampagne "Schulen für Afrika" und betont: "Aufklärung der Eltern, aber auch die Ausbildung von Lehrern und der Bau und die Weiterentwicklung von kinderfreundlichen Schulen in ländlichen Regionen müssen Hand in Hand gehen." Dass Kinder darüber hinaus in einer friedlichen Welt jenseits von ethnischen Konflikten und Bürgerkriegen aufwachsen sollten ist einerseits Binsenweisheit und auf der anderen Seite ein Wunschtraum für viele Millionen, die in Armut und Angst leben müssen.
Bildung für die Mütter
Die vorliegenden Daten zeigen auch: Frauen, die selbst in ihrer frühen Kindheit unter Mangelernährung und fehlender Gesundheitsvorsorge gelitten haben, bringen ihrerseits untergewichtige Babys zur Welt. Es ist also auch ein Generationenproblem. Hilfsorganisationen betonen daher, wer den Kleinsten helfen wolle müsse vor allem die Mütter unterstützen. Informationen und Bildung sind daher eine wesentliche Ressource. "Viele Frauen glauben, Maispampe ist ausreichend. Kinder aber brauchen eine andere Ernährung. Das Problem liegt in der mangelnden Bildung ihrer Mütter. Es ist diese Unwissenheit, die der Entwicklung entgegen steht, " sagt Simone Pott. Deshalb organisiere die Welthungerhilfe in Kooperation mit lokalen Partnern in Afrika, Asien und Lateinamerika ganz praktische Kurse: "In Burundi zum Beispiel haben wir Kochkurse angeboten für Schwangere und Mütter. Mit Hilfe von einfachen Tafeln und bunten Schildern wurden die Frauen informiert darüber, warum für die Kinder Ernährung etwas anderes ist, als für Erwachsene".
Viele Mütter würden ihre Kinder gerne besser ernähren. Aber die Familieneinkommen sind zu gering, die Lebensmittelpreise zu hoch. Märkte sind weitentfernt, ebenso Gesundheitszentren oder Krankenhäuser. Manchmal stehen auch Stammestraditionen und Aberglauben den Bildungsangeboten entgegen. Man fragt lieber so genannte Heiler um Hilfe. Und dann ist da oft noch die mangelnde Gleichberechtigung der Frauen. Die Erkenntnis, dass auch Männer von einer gesünderen Ernährung profitieren können, setzt sich vielfach nur langsam durch. Es ist deshalb nicht immer leicht, die dörfliche Bevölkerung anzusprechen. "Viele sind interessiert, viele aber auch sehr zögerlich. Der Wille, etwas Neues zu machen, ist oft nicht groß – konkrete Beispiele sind nötig. 'Best practice' sozusagen als schlagende Beweise. In jedem Fall braucht man einen langen Atem," bilanziert Simone Pott.
Eine politische Aufgabe
Alle Bemühungen aber kosten Geld – Geld, das manche Länder nicht haben, das anderen aber sehr wohl zur Verfügung steht. Die Bekämpfung der Unterernährung muss auch für die jeweiligen Regierungen ein Thema werden, sagen Mitarbeiter von Hilfsorganisationen. Sie haben beobachtet, dass es trotz einer unstrittigen Datenlage vielfach am politischen Willen zur Umsetzung von Hilfsmaßnahmen mangelt. Daneben aber bleibe deutsche und internationale Unterstützung weiter gefragt. "Wir brauchen mehr Mittel für die Grundbildung von Kindern in besonders benachteiligten Ländern", fordert Rudi Tarneden. Damit Rianne und ihre vielen Altersgenossen weltweit eine Chance bekommen.
Autorin: Cornelia Rabitz
Redaktion: Matthias von Hein