Horror durch Geräuschkunst
16. September 2013Vor 50 Jahren, am 20. September 1963, schockt Alfred Hitchcock die deutschen Kinobesucher erstmalig mit dem Horror-Szenario attackierender Vögel. Nicht nur die erschütternden Bilder der Möwen- und Krähenangriffe, auch das unangenehme, schrille Kreischen seiner Vögel hat sich ins kollektive Gedächtnis der Fans eingepflanzt.
Die schrille Geschichte setzt überraschende Akzente: Nach einer kurzen Begegnung in einer Tierhandlung ist Melanie Daniels dem Anwalt Mitch Brenner an die kalifornische Küste nachgereist, wo er in Bodega Bay das Wochenende verbringen will. Dort wird sie von einer Möwe angegriffen und verletzt. Die Vogelangriffe häufen sich. Sie werden immer heftiger, fordern die ersten Tote - bis ganze Vogelscharen die Stadt terrorisieren. Viele Einwohner flüchten. Andere verbarrikadieren sich in ihren Häusern.
Hitchcock schafft es, aus harmlosen Vögeln teuflische Mordbestien zu machen. Doch seine Ton-Crew bietet ihm dazu nur Klänge von Vögeln aus Nachbars Garten. "Solche Schreie höre ich draußen jeden Tag. Ich brauche etwas, das die Leute erschreckt!", empört sich der Meister. Mit dem Soundtrack will Hitchcock Anfang der 60er Jahre die Rolle der Vögel unterstreichen.
Neues Instrument
Als er Remi Gassmann, einen ehemaligen Schüler des deutschen Komponisten Paul Hindemith, kennenlernt sagt der, er kenne den Richtigen für die Aufgabe: Seinen einstigen Berliner Studienkollegen und Musikpionier Oskar Sala. Hitchcock fackelt nicht lange. Und Sala setzt auf ein ungewöhnliches Instrument - das Trautonium. Nach seinem Erfinder Friedrich Trautwein benannt, gilt dieses einer kleinen Orgel ähnelnde elektronische Instrument als Vorläufer des analogen Synthesizers. Bereits Ende der 1920er Jahre hatte Hitchcock es einmal im Berliner Rundfunk gehört. Oskar Sala schafft damit jetzt sämtliche Klangeffekte des Films: Die Vogelschreie, das Schlagen der Fenster und Türen, selbst das Nageln der Bretter, mit denen die Menschen sich und ihre Häuser vor den Vögeln zu schützen suchen, alle Geräusche entstehen 1961 in Salas kleinem Studio in Berlin-Charlottenburg.
Neue Filmmusik
Für sein größtes Meisterwerk betritt Hitchcock damit Neuland. Er verzichtet auf die Untermalung der Bilder durch herkömmliche Filmmusik. Ihn interessieren experimentelle und elektronische Klänge. Ganz auf der Höhe der Zeit will der britische Filmregisseur und Filmproduzent, dass Filmmusiker gezielt die Grenze zur sogenannten Neuen Musik überschreiten.
"Die Musik im Horrorfilm der 60er Jahre verzichtet gerne auf periodische Rhythmik und traditionelle Harmonik. Sie wird atonal. Sie wird sehr dissonanzreich und schrill", erläutert Prof. Frank Hentschel, Musikwissenschaftler an der Universität zu Köln. Es seien sehr scharfe Klänge, die im Horrorfilm dominieren. Melodik spiele meistens keine, das Geräusch in der Musik dagegen eine stetig wachsende Rolle.
Stilisierte Geräusche
"Die Tatsache, dass ein Film gänzlich auf Filmmusik verzichtet und diese durch Geräusche ersetzt, macht "Die Vögel" zum Sonderfall in Hitchcocks Schaffen", merkt der Musikwissenschaftler Hentschel an. Hitchcock verwende für das Flattern und Kreischen der meist in Scharen angreifenden Vögel eine Mixtur aus natürlichen und künstlich nachgebildeten Klängen des Trautoniums. Oskar Sala verzerrt und stilisiert dabei die Vogelklänge ins Merkwürdige und Unnatürliche, ins Bedrohliche und sogar Aggressive. Hitchcocks Möwen und Krähen sollen ganz bewusst teuflisch klingen.
Schreckliche Stille
Beunruhigender und Angst einflößender als die schrill und laut tönenden Angriffe der Vögel vermag in Hitchcocks filmischem Meisterwerk nur die Schlussszene zu wirken: Die übrig gebliebenen Protagonisten treten aus ihrem Haus, das längst keinen Schutz mehr bietet. Ihnen offenbart sich ein apokalyptisches Bild: Unzählige Vogelscharen belagern die Gegend. Doch nur vereinzelt tönt eine leise Möwe oder Krähe.
Hitchcock nutzt für das Ende seines Thrillers eine unnatürliche, verfremdete Stille. Ganz ohne Musik und Geräusche rückt er das unheimliche Bild in den Vordergrund. Nichts lenkt von diesem apokalyptischen Schreckensbild ab. Auch der Zuschauer steht damit schrecklich allein.