Maya Lasker-Wallfischs "Briefe nach Breslau"
21. Juni 2020Gesprochen wird im Elternhaus in England nie darüber. "Normal" ist das Lieblingswort ihrer strengen Mutter Anita Lasker-Wallfisch (Bildmitte). Dann findet die 13-jährige Maya in einer versteckten Mappe verstörende Fotos: mit ausgemergelten KZ-Häftlingen und Bulldozern, die Leichenberge zur Seite schieben. Daneben britische Soldaten, die das Lager Bergen-Belsen befreit haben.
Das junge Mädchen traut sich nicht zu fragen, zu stark wirkt das Tabu, das unausgesprochen in der Familie existiert. Maya fühlt sich ständig als "bad girl" und revoltiert als Teenager renitent gegen alles. Ihre Eltern sehen hilflos zu, wie sie von der Schule fliegt und in Drogensucht und Haltlosigkeit abstürzt.
Eine jüdische Familie aus Breslau
"Briefe nach Breslau. Meine Geschichte über drei Generationen" heißt das aufschlussreiche Buch, mit dem sich Maya Lasker-Wallfisch, in London geboren, von einem belastenden Erbe und dem Trauma ihrer jüdischen Familie befreit hat.
In elf fiktiven Briefen berichtet sie ihren Großeltern, was mit deren drei gebildeten und musikalisch begabten Töchtern passiert ist. "Ich dachte, wenn ich versuche, eine Beziehung zur Vergangenheit herzustellen, würde ich in der Gegenwart besser zurechtkommen", schreibt die Autorin.
In Maya Lasker-Wallfischs Leben ist vieles schief gelaufen. Auch davon schreibt sie in ihrem Buch - ehrlich und erschreckend schonungslos. "In meiner Familie wurden zwei Sprachen gesprochen: Musik und Deutsch. Ich beherrschte keine von beiden."
Anfangs schiebt sie ihr Scheitern darauf, dass die Eltern - beide Musiker und ständig auf Reisen - kaum Zeit für sie hatten. Sie fühlt sich unverstanden, ungeliebt - und schuldig, ohne zu wissen warum. Der ältere Bruder ist das Vorzeige-Wunderkind, das die musikalische Begabung geerbt hat, sie das "Problemkind". Aber das ist nur die Oberfläche einer ganz anderen, tiefer gehenden Geschichte.
Im Mädchenorchester von Auschwitz
Mayas Großeltern werden 1942 aus Breslau deportiert und von den Nazis ermordet. Ihre älteste Tochter Marianne ist kurz zuvor nach England gereist, sie entgeht diesem Schicksal. Die jüngeren Töchter Anita und Renate werden im KZ interniert.
Gespiegelt in Briefen an ihre Großeltern berichtet die Enkelin Maya Lasker-Wallfisch, wie die beiden Schwestern die Hölle von Auschwitz überleben und dem Tod in der Gaskammer entgehen. Mayas Mutter Anita spielt Cello und wird dem Lagerorchester zugeteilt.
"Zwei Jahre hatte meine Mutter kein Cello mehr gesehen, geschweige denn in der Hand gehabt. Sie bat um ein paar Minuten, in denen sie sich mit dem Instrument vertraut machen konnte. Dann spielte sie den langsamen Satz aus dem Boccherini-Konzert. Mir kommen die Tränen, während ich das hier schreibe und ich mir vorstelle, wie sich der Geist meiner Mutter über das sie umgebende Grauen erhob…"
Anita Lasker musiziert von nun an im Häftlingsorchester, auch zur Unterhaltung der SS-Offiziere. Der berüchtigte KZ-Arzt Josef Mengele will oft Schumanns "Träumerei" hören. Ihre Schwester Renate kann sich als Lagerbotin für die SS vor der harten Zwangsarbeit retten, erfährt Maya später von ihrer Mutter.
Durch dieser Umstände, die ihnen im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau eine Sonderstellung und manchmal Extrarationen an Essen verschaffen, und dank ihres starken Überlebenswillens überstehen beide Schwestern am Ende Hunger und Kälte, den Lagerterror und sogar Typhus-Epidemien. Aber das ist nicht das Ende des traumatischen Schreckens.
Die Hölle von Bergen-Belsen
Im Oktober 1944 rückt die russische Rote Armee näher. In einem überstürzten Häftlingstransport der SS landen die Schwestern im Oktober 1944 in Bergen-Belsen in Niedersachsen. Jeden Tag stranden dort Tausende völlig entkräfteter KZ-Häftlinge - das Ende der Todesmärsche.
"Das Lager wurde zur absoluten Hölle. Die Nahrungsmittelvorräte erschöpften sich. An manchen Tagen gab es nicht einmal mehr Wasser. Meine Mutter kann sich erinnern, wie ein vollkommen verzweifelter Häftling das Ohr eines Toten aß...", schreibt Autorin Lasker-Wallfisch.
Am 15. April 1945 wird das Lager von den vorrückenden britischen Truppen befreit. Maya hat ihre Mutter immer wieder behutsam befragt, wie sie diesen Moment erlebt hat.
"Niemand sprang herum und jubelte, niemand winkte den lächelnden Befreiern zu. Dazu fehlte den Häftlingen die Kraft. Die britischen Soldaten waren entsetzt und fassungslos, als sie das Lager betraten. Selbst die kriegerprobtesten hatten Derartiges noch nie zuvor gesehen. Die Gefangenen hatten sich längst an die Leichenberge gewöhnt."
Überleben in England
Marianne, die älteste der drei Lasker-Schwestern, ist in England geblieben. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 1939 verhindert die geplante Ausreise nach Palästina. In London schließt sie sich einer jüdischen Pionierbewegung an, die sich auf das Leben im Kibbuz vorbereitet. Wo ihre zwei Schwestern sind, ahnt sie nicht. Im Frühjahr 1945 erzählt eine Nachbarin der jungen Deutschen, eine Überlebende des KZ Auschwitz sei im Radio zu hören gewesen: Anita Lasker.
"Marianne eilte sofort zur BBC und konnte die Leute dort überreden, ihr das Interview noch mal vorzuspielen. Anita sprach von sich und ihrer Schwester – sie waren also beide am Leben! Was muss Marianne empfunden haben, als sie die Stimme nach fast sechs Jahren zum ersten Mal wieder hörte."
Marianne adressiert einen Brief: Anita Lasker, Bergen-Belsen. Obwohl es im zerstörten Deutschland keine Post gibt, kommt er erstaunlicherweise an. Der Briefkontakt reißt nicht mehr ab, bis sich die Schwestern endlich in London wieder sehen. Marianne lebt inzwischen in Palästina.
Rettung aus dem inneren Chaos
Eine Generation später erlebt Maya, die Tochter der Holocaust-Überlebenden Anita Lasker-Wallfisch, als junge Frau einen psychischen Absturz, der sie fast umbringt. Alkohol, Drogen und die Heirat mit einem cracksüchtigen Junkie, das alles zieht ihr vollständig den Boden unter den Füßen weg. Am Schluss rettet Mutter Anita ihr mit unnachgiebiger Strenge das Leben: Sie nötigt ihr das Versprechen ab, in eine Entzugsklinik zu gehen.
Als ihr Vater stirbt, stürzt die junge Frau erneut in einen Zustand totaler Verwirrung und Orientierungslosigkeit. Aber sie kommt endlich ins Gespräch mit ihrer Mutter. Der Schmerz des Verlustes bricht deren Schweigen auf, sie erzählt, was sie im Konzentrationslager erlitten und erlebt hat. Erstmals begreift die Tochter, warum ihr ein stabiles emotionales Fundament fehlt:
"Das ist das Echo des generationenübergreifenden Traumas, das mein ganzes Leben überschattet hat. Als Kinder verlassen wir uns darauf, dass unsere Eltern uns dabei helfen, die Welt zu verstehen, in uns und um uns herum. Bei mir blieb das aus."
Schritte in ein selbstbestimmtes Leben
Als Mayas erstes und einziges Kind zur Welt kommt, wird das zur Weichenstellung für ein neues Leben. Durch die Ehe mit David erhält sie innere Leitplanken, die ihr Halt geben. Ihr Mann kommt aus einer orthodoxen britischen Rabbiner-Familie. Mit Begeisterung akzeptiert sie das strenge jüdische Regelwerk, das sie aus ihrer deutschen Familie so nicht kennt.
Die Ehe scheitert, aber Maya findet ihren Weg. Ihren Sohn Abraham zieht sie allein groß. Die Verantwortung gibt ihr die Kraft, über sich und ihre Angst hinaus zu wachsen. Sie wird Suchttherapeutin, studiert analytische Psychotherapie und hilft anderen Drogensüchtigen – und damit auch sich selbst.
Heute lebt Maya Lasker-Wallfisch als international anerkannte Trauma-Expertin in London. Sie weiß um die heilende Kraft der Worte - für das Unaussprechliche.
Aber erst durch den Brief-Dialog mit ihren toten Großeltern konnte sie sich in ihrer jüdischen Familiengeschichte verankern und ihre eigene Identität finden. Ihre Mutter berichtet inzwischen vor Schulklassen, Studenten und bei Lesungen über ihre Erlebnisse im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.
Und Maya Lasker-Wallfisch? Sie hat einen Traum, ihren Traum: eine gemütliche Altbau-Wohnung in Berlin-Charlottenburg - um dort ihre deutsche Kultur für sich zu entdecken.
Maya Lasker-Wallfisch „Briefe nach Breslau. Meine Geschichte über drei Generationen“, Suhrkamp Verlag, Berlin (2020). ISBN: 978-3-458-17847-7. Entstanden ist das Buch in Zusammenarbeit mit dem britischen Historiker Taylor Downing. Übersetzt aus dem Englischen von Marieke Heimburger.