Hochwasser in Polen: "Wir hoffen, es wird nicht schlimmer"
20. September 2024Mit wachem Blick beobachtet die runzelige alte Dame das Geschehen hinter dem Absperrband. Seit Montag (16.09.2024) sei die Straße gesperrt, erzählt sie. Mehrmals am Tag kommt die 83-jährige Frau Stefania, wie sie alle hier nennen, zur Oderbrücke in Olawa (Ohlau), um das Treiben zu beobachten - und das Wasser. Denn der Pegelstand steigt. Erst sechs Meter, dann sieben. Dann 7,14 Meter, dann 7,28...
Die Anzeige unter der Oderbrücke in Olawa ist derzeit ein Hotspot für die Einwohner. Es vergeht keine Minute, in der nicht jemand näher an den Pegelstand möchte, um ihn zu fotografieren. Irgendwann hängt die Polizei Absperrbänder davor. Was natürlich niemanden davon abhält, darunter durchzuschlüpfen.
Doch der Brennpunkt ist in der Rybacka-Straße direkt neben dem Ufer des Flusses Olawa, der dem Städtchen seinen Namen gibt. Die Olawa ist ein Zufluss der Oder. Nebenflüsse wie dieser sind es, auf die die Menschen in Niederschlesien in Polen gerade besonders achten. Sind die voll, wird die Oder noch voller. Und dann trifft es Breslau (Wroclaw) , die drittgrößte Stadt Polens besonders hart.
Mit dem Pegel des Flusses steigt in Olawa auch die Höhe der Dämme aus Sandsäcken an. Sie stapeln sich vor Wohnblöcken und Häusern in dem Städtchen. Einige Helfer werden zu Gipfelstürmern, andere schaufeln, binden Säcke zu, bilden Menschenketten, hieven die Säcke in Baggerschaufeln, die dann auf die Ladeflächen von Transportern geladen werden.
Wie lange bleibt es noch trocken?
"Über 20.000 Säcke haben wir schon geschafft", erzählt Dominika Bator-Wrobel, die Koordinatorin der freiwilligen Helfer in Olawa, die ihre Arbeit über Crowdfunding finanzieren. Sie sagt den Fahrern, an welchen Ort sie die Säcke bringen, verteilt die Helfer - und auch das Essen. Das wird am dritten Tag des Hochwassers nämlich knapp, ebenso wie der Sand. Denn die Firmen liefern ihn nur an den, der zahlt. Und nicht jeder sieht die Notlage der Menschen.
Einige Helfer wie Grzegorz Gopon haben einen ganzen Flutmarathon hinter sich. "Mein fünfter Tag heute", sagt er. Am Wochenende war er im südwestpolnischen Ort Glatz (Klodzko) nahe der tschechischen Grenze, der besonders stark überschwemmt wurde. Und danach immer dort, wo die Flutwelle als nächstes zuschlug. Bis er schließlich sein eigenes Zuhause in Stary Otok verlassen musste. Denn das kleine Dorf nahe Olawa wurde wegen gezielter Polderflutungen bereits am Dienstag (17.09.2024) evakuiert. Gopon checkt die Kamera vor seinem Haus auf dem Smartphone: "Noch ist alles trocken." Aber wie lange?
In anderen Ortschaften ist das Wasser über die Wälle gelaufen. Bei Marian Dutczak in Scinawa Polska, einem Vorort von Olawa, steht das Wasser schon im Garten. Halb so schlimm sei das, sagt er. Sein Haus steht etwas erhöht. "Bei der Jahrhundertflut 1997 stand es bis hierher", sagt er und zeigt auf die zweite Terrassenstufe zum Haus. "Mir wäre es natürlich lieber, dass das Wasser jetzt nicht noch höher steigt und woanders ausläuft. Wir werden sehen."
Das Wasser kam angeschossen
Marszowice, dreißig Kilometer nordwestlich von Olawa, nicht weit von hier mündet die normalerweise eher kleine Bystrzyca in die Oder. Vor einigen Tagen kam ihr Wasser hier, am Nordwestrand Breslaus, regelrecht angeschossen. Denn der Staudamm am Speicherbecken Mietkow, 30 Kilometer südwestlich von Marszowice, musste Wasser ablassen, der Druck war zu groß geworden.
Das Haus von Tadeusz Zmurko in Marszowice steht nur fünf Meter von der Bystrzyca entfernt. Der ältere Herr schaut der Flut gelassener entgegen als manch andere Einwohner. Er hat schon mehrere Fluten erlebt, größere, kleinere. Die Sandsäcke halfen ohnehin nicht, also spart er sich die Mühe. "Das Wasser findet immer seinen Weg", sagt er. Und versucht optimistisch zu bleiben.
Ganz so gelassen ist Agnieszka Wojtczak am Mittwochmorgen nicht. Die 45-jährige Mutter wohnt in Stablowice, dem Stadtteil direkt neben Marszowice. Trotz der Sandsäcke und Wallaufschüttungen, überflutete das Wasser - wieder über Nacht - eine Zufahrtsstraße aus Marszowice. Jetzt stapeln Einwohner, freiwillige Helfer und Soldaten große weiße, manchmal auch blaue Sandsacktürme vor dem großen Wohnhaus, in dem Wojtczak lebt. Im 1. Stock. "Wir haben Angst, dass das Wasser bis hier hochsteigt", sagt sie. "Unser Schrebergarten ist schon überflutet."
Seit zwei Nächten hat sie kein Auge mehr zugemacht. Vorbeifahrende Militärtransporter, Feuerwehr, Polizei, laute Rufe, Säcke, die geworfen werfen, Lastwagen, die Sand abladen. "Wir hoffen einfach, dass sich die Lage nicht verschlechtert", sagt die junge Mutter. "Mit eigenen Augen zu sehen, wie schnell das Wasser näher kommen kann, ist ein schreckliches Gefühl."
Vorboten eines Dammbruchs?
Zurück in Olawa. Am Mittwochabend (18.09.2024) inspiziert Bartlomiej Marcinow in Stanowice, einem Vorort, einen Schutzwall neben der Brücke über den Fluss. "Diese Flut ist sehr dynamisch", sagt der Bezirkshauptmann der Feuerwehr in Olawa. "Stündlich ändern sich die Prognosen, man muss einfach beobachten und darauf schnell reagieren."
Der Schutzwall scheint an einigen Stellen nicht nur durchweicht zu sein, es tun sich auch Spalten auf. Sind es Vorboten eines Dammbruchs? Marcinow hat jedenfalls 80 Männer aus Olawa und anderen Städten geholt, die den Wall an einigen Stellen mit Sandsäcken stützen.
Schon am Nachmittag sind die ersten Hilferufe aus Stanowice gekommen, der Schutzwall könne die Wassermenge nicht mehr halten. Immer mehr Helfer aus dem Ort und aus der Umgegend fahren mit Sandsäcken zum Fluss, um sie aufzustapeln. Am Abend sind es bereits über 200 Menschen, die hier lange Menschenketten links und rechts des Wassers bilden. "Wir sind geschockt", sagt Alicja Krawczyk, eine junge Anwohnerin. Bei der großen Flut 1997 sei hier nichts gewesen, nicht mal Säcke, sagt sie, zumindest erzählten das die Eltern und Großeltern.
Das bestätigt nur die Worte des Bezirkshauptmanns. "Die Prognosen haben nicht darauf hingedeutet, dass die Olawa so anschwellen wird", sagt er. Deshalb wird situativ vor Ort gehandelt. Während der Pegelstand hier steigt, scheinen die Prognosen für die Oder besser zu werden. "Nur" noch 5,59 Meter, heißt es. Das ändert sich in der Nacht zu Donnerstag schlagartig. Denn die Welle erreicht Breslau fast einen Tag früher als erwartet.
Die Prognosen haben sich wieder nicht erfüllt. Der Wasserstand um Mitternacht übersteigt die Sechs-Meter-Marke. Im Laufe des Donnerstags erreicht die Oder noch einen Stand von 6,40 Meter. Hätte die Wasserwirtschaft nicht noch nachts die Polder der Olawa geflutet, hätte die Welle in Breslau mehr als sieben Meter erreicht - wie damals 1997, als die Oder einen Stand von 7,24 Metern hatte.
Doch diesmal ist die Welle ist nicht kurz und heftig, sie ist lang und mächtig. Mehr als einen Tag lang wird sie die Stadt Breslau durchfließen. Die große Frage der Helfer ist: Werden die durchnässten Wälle halten? Solange sie keine Sicherheit haben, schaufeln sie weiter.