Außergewöhnlich: Hirokazu Kore-eda
28. August 2019Erstmals hat Hirokazu Kore-eda außerhalb seiner Heimat gedreht, zum ersten Mal mit nicht-japanischen Schauspielern - und auf Englisch. "La Vérité" hat an diesem Mittwoch den Wettbewerb der 76. Festspiele in Venedig (bis zum 7.9.2019) eröffnet. Der Film erzählt von der schwierigen Beziehung zwischen einer legendären französischen Filmschauspielerin (passenderweise mit Catherine Deneuve besetzt) und ihrer Tochter (Juliette Binoche). Die reist mit ihrem Mann (Ethan Hawke) und dem gemeinsamen Kind von New York nach Paris, um der Veröffentlichung der Memoiren der Mutter beizuwohnen. Es entwickelt sich ein spannungsreiches Wiedersehen.
Man kann davon ausgehen, dass Hirokazu Kore-eda (auf unserem Bild oben bei Dreharbeiten im Jahre 2008) aus dem Stoff kein überbordendes Melodrama mit großen Gefühlsausbrüchen und dramaturgischen Volten gemacht hat. Der japanische Regisseur ist ein Meister im Aufzeichnen menschlicher Zwischentöne, ein aufmerksamer Beobachter kleinster psychischer Regungen in Beziehungen und familiärer Strukturen.
Hirokazu Kore-eda: "Eine kleine Familiengeschichte"
"Ich bin hocherfreut, dass mein neuer Film für die Eröffnung des Filmfestivals ausgesucht worden ist", begrüßte der Filmemacher die Entscheidung von Festivaldirektor Alberto Barbera, "La Vérité" in diesem Jahr als Auftaktfilm zu zeigen. Für ihn sei das eine große Ehre.
"Das Zusammentreffen des Universums von Japans wichtigstem Filmemacher und zwei beliebten Schauspielerinnen wie Catherine Deneuve und Juliette Binoche hat die poetische Reflexion der Beziehung zwischen einer Mutter und ihrer Tochter hervorgebracht", lobte Barbera bei einer Pressekonferenz der 76. Filmfestspiele seinen diesjährigen Eröffnungsfilm.
"La Vérité" ist ein Film über Stolz, Freude und Versöhnung
Die Besetzung der japanisch-französischen Co-Produktion sei "sehr hochrangig", so Hirokazu Kore-eda. "Der Film selbst erzählt eine kleine Familiengeschichte, die sich vor allem im Inneren eines Hauses abspielt. Ich habe versucht, meine Charaktere mit all ihren Lügen, ihrem Stolz, ihren Entschuldigungen, ihrer Traurigkeit, ihrer Freude und ihrer Versöhnung in diesem kleinen Universum leben zu lassen."
Der Regisseur dürfte damit stilistisch an sein bisheriges Werk anknüpfen. In das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit ist Hirokazu Kore-eda im vergangenen Jahr getreten, als sein Film "Shoplifters" die Goldene Palme in Cannes gewann. Auch in "Shoplifters" erzählt der Japaner eine Familiengeschichte: In einer ärmlichen Wohnung in Tokio wohnt eine Familie, die ihren Lebensunterhalt mit kleinen Ladendiebstählen aufzubessern versucht. Erst am Ende wird das Geheimnis gelüftet, das sich hinter der Patchwork-Familie verbirgt.
Hirokazu Kore-edas Filmdebüt lief auch schon in Venedig
Wenn Hirokazu Kore-eda jetzt seinen neuen, inzwischen vierzehnten Spielfilm in Venedig präsentiert, dann dürfte er gute Erinnerungen an die Stadt haben. Beim Festival am Lido feierte 1994 sein Debüt "Maboroshi - Das Licht der Illusion" Weltpremiere - und gewann direkt einen Preis. "Maboroshi" war die tieftraurige Geschichte einer Witwe, die in einer neuen Beziehung ihr Glück sucht, von der Vergangenheit aber nach Jahren wieder eingeholt wird.
Auch in den folgenden Filmen bewies Hirokazu Kore-eda sein Talent für sensibel ausgelotete Familienstrukturen. Dabei wechselte der Regisseur durchaus Zeit und Milieu. Doch fast immer stehen zwischenmenschliche Beziehungen im Mittelpunkt seiner japanischen Filmerzählungen. Oft sind es Todesfälle oder Begräbnisse, die bei anderen Familienmitgliedern oder Freunden etwas auslösen.
Emotionale Familienkonflikte sind Spezialität des Regisseurs
Hirokazu Kore-edas Filme drehen sich um das Schicksal von Eltern und Kindern, um Geschwisterkonflikte und Brüche innerhalb von Familien. Besonders eindrücklich gelang 2013 der Film "Like Father, Like Son", in dem der Regisseur von zwei Familien erzählte, die eines Tages erfahren, dass ihre Kinder bei der Geburt vertauscht worden sind.
Seine Filme werden von den großen Festivals regelmäßig zu Weltpremieren eingeladen, nach Cannes und Venedig, oft auch nach Toronto. Inzwischen gilt Hirokazu Kore-eda als führender Regisseur seiner Generation in Japan - und als später Nachfahre des großen Yasujirō Ozu, einem der meistverehrten Filmregisseure der Kinogeschichte. Auch Ozu hatte einen ruhigen, behutsamen Stil, richtete seinen Blick auf Familien und ihre Probleme, aber auch auf Momente des Glücks innerhalb menschlicher Beziehungen.
Filmischer Minimalismus
Hirokazu Kore-Edas Talent liege darin, "auf große Worte zu verzichten und mit einer zum Minimalismus neigenden Haltung die eigene Welt zu beschützen", charakterisierte sein Landsmann, der Filmhistoriker Inuhiko Yomota, vor zwei Jahrzehnten im Buch "Im Reich der Sinne - 100 Jahre japanischer Film" den ästhetischen Stil des Regisseurs.
Ihm sei es gelungen, unmittelbar nach seinem Debüt auf der internationalen Bühne Fuß zu fassen: "in der Filmgeschichte Japans ein einmaliger Vorgang", so der Filmpublizist. Noch wisse aber niemand, wohin der Weg dieses Regisseurs gehe, zeigte sich Inuhiko Yomota damals noch skeptisch. Heute, 20 Jahre später, kann man die Frage beantworten. Hirokazu Kore-eda hat sich fest etabliert an der Spitze des Weltkinos - gerade auch international, wie der mit zwei großen französischen Stars besetzte und in Frankreich gedrehte Eröffnungsfilm "La Vérité" der diesjährigen Filmfestspiele in Venedig beweist.
Das Werk Hirokazu Kore-edas ist beim Schweizer Anbieter Trigon Film auf DVD verfügbar. Dort liegen neun der vierzehn Filme des japanischen Meisterregisseurs auf DVD vor. In einer Hirokazu Kore-eda-DVD-Box sind fünf Filme des Regisseurs zusammengefasst, ergänzt von einem kenntnisreichen Essay von Walter Ruggle.