Heilung, fern von Zuhause
15. Februar 2014Zwischen bunten Vorhängen sitzt Hussain auf einer Bahre und knetet nervös die Hände. Die Krankenschwester begutachtet seine Narben, seine Verletzungen sind gut verheilt, aber der zehnjährige Afghane fühlt sich unwohl. Hussain steht nicht gerne im Mittelpunkt, spricht wenig, erst recht kein Deutsch - und er hat Heimweh.
Im Sommer 2013 landete er als eines von 100 kranken Kindern in Düsseldorf. Gestartet in Tadschikistan, legte die Sondermaschine Zwischenstopps in Afghanistan, Armenien und Georgien ein: Hussain steigt in Kabul dazu, fliegt 14 Stunden nach Deutschland. Erschöpft verlässt er das Flugzeug, einige Kinder weinen, viele müssen getragen werden: Kinder mit fehlenden Gliedmaßen, Teenager mit schweren Verbrennungen - auf dem Rollfeld warten mehr als ein Dutzend Krankenwagen, um die Patienten in Krankenhäuser oder das Friedensdorf in Oberhausen zu bringen. Hussain wird mit Mohammad Reza (13), einem Jungen aus seiner Heimatregion Saripul, ins Krankenhaus gefahren. Mit müden Gesichtern sitzen sie in ihren afghanischen Kaftanen im Mannschaftswagen. Neben ihnen liegen verwaist zwei Kuscheltierlöwen, die sie von Helfern bekommen haben. Gepäck besitzen sie nicht; wann sie ihre Eltern wiedersehen werden, hängt von ihrer Genesung ab.
Problem in Entwicklungsländern
Beide Jungen müssen dringend operiert werden, sie leiden unter einer Knochenmarksentzündung. Hussain ist beim Spielen vom Baum gefallen, nach der OP entzündete sich ein Unterschenkel. "Unbehandelt müsste das Bein schlimmstenfalls abgenommen werden. Wenn sich die Entzündung verbreitet, kann das tödlich enden", erklärt Dr. Bernhard Plath, ein mitfahrender Arzt. Das sei "ein typisches Problem" in Entwicklungsländern. Die Kinder wurden in ihren Heimatländern von den Partnerorganisationen des Friedensdorfs untersucht, Fragen wurden damals wenige gestellt, auch damit die Eltern nicht versuchen, die Ärzte zu beeinflussen.
Zu den körperlichen Beschwerden kommen bei vielen seelische Leiden hinzu. Im Friedensdorf trifft man Kinder, die durch eine Mine nicht nur ihr Bein verloren haben, sondern auch den Vater. Zwar sei meist eine gewisse Zeit seit den Vorfällen vergangen, berichtet Betreuer Jai Giesen. "In gewissen Situationen merkt man es noch, aber es sind Kinder. Wenn sie spielen, sind sie glücklich."
Von der Einzelaktion zum Dauerprojekt
Das Friedensdorf-Projekt begann 1967 mit einer Hilfsaktion für verletzte Kinder aus Vietnam. Doch Kriege gibt es immer, neue Krisenländer wie Angola kamen hinzu. Heute hilft der Verein mit vier Einsätzen jährlich bis zu 500 Kindern. In Krankenhäusern werden die Kinder versorgt und täglich von ehrenamtlichen Helfern besucht, die trotz Sprachbarriere versuchen, eine Beziehung zu ihnen herzustellen. Anfangs seien Hussain und Mohammad Reza still gewesen, Hussain habe ein paar Mal unter der Decke geweint, berichtet Betreuerin Ursula Sagolla. Doch je besser es den Jungen geht, desto mehr halten sie das Krankenhaus auf Trab. "Sie haben Patienten mit dem Rollstuhl angerempelt und auch mal rumgebrüllt."
Im Oktober werden sie ins Friedensdorf gebracht, in dem auf das Jahr verteilt etwa 150 Kinder wohnen. Hier kommen sie mit Gleichaltrigen aus ihrem Land zusammen und können wieder ihre Sprache sprechen. Friedensdorf-Mitarbeiterin Jasmin Peters sieht darin "die große Stärke" der Heimeinrichtung. "Wir kochen landestypische Gerichte und sprechen regelmäßig über Zuhause. Ein wenig Heimweh schadet den Kindern nicht, so bleibt die Bindung bestehen. Sie sollen schließlich in ihre Kultur zurückkehren." Mit der Trennung von den Eltern gehen die Kinder unterschiedlich um, gerade vor dem Einschlafen gebe es schon mal Tränen, berichtet Peters. "Aber der Zusammenhalt in der Gruppe ist das Entscheidende, die Kinder trösten sich auch gegenseitig."
Neue Freunde, neue Familie
Im Krankenzimmer des Friedensdorfs hängt eine Weltkarte neben der Liege. Zwischen Daumen und Zeigefinger misst ein angolanischer Junge den Abstand zwischen Deutschland und seiner Heimat nach, während er untersucht wird. Immer wieder läuft er mit den Fingern die Distanz ab. Im Spielzimmer gegenüber sitzt Romulu und erzählt von Zuhause. Vermisst er seine Eltern? "Ja, viel", antwortet der Angolaner ernst, gerade hat er seinen 10. Geburtstag im Dorf gefeiert. Dann lacht er plötzlich, zieht seinen Freund Hermenegildo zu sich heran und ruft: "Aber ich habe neuen Bruder gefunden." Die beiden Jungen haben sich im Flugzeug kennengelernt. Vor ihrer OP in Deutschland konnten sie kaum laufen, nun balgen sie sich vergnügt.
Die meisten Kinder bleiben ein halbes Jahr in Deutschland, aber es gibt Ausnahmen, wenn die Erkrankung kompliziert ist: Von den momentan 80 Jungen seien "25 bis 30 schon längere Zeit hier", schätzt Betreuer Jai Giesen. "Wir haben einen Jungen, der kann seine Muttersprache nicht mehr, weil er bei seiner Ankunft so klein war." Je länger die Kinder in Deutschland sind, desto mehr verblasst die Erinnerung an Zuhause, so wie beim zwölfjährigen Gulrahman. Über drei Jahre ist es her, dass sein Vater ihn aus seinem Dorf zur Untersuchung nach Kabul brachte. Der Junge hatte eine komplizierte Beinverletzung, die in Deutschland behandelt werden musste. Mehrfach wurde Gulrahman operiert, saß immer wieder im Rollstuhl. Heute kann er normal laufen, spricht fließend Deutsch und schreibt seinen Eltern seit mehr als 30 Monaten Briefe. "Ich kann mich nur an meinen Papa erinnern, an meine Geschwister kaum", erzählt der Afghane. Er möchte trotzdem bald nach Hause. In seinem Schrank hängt ein Foto seiner Familie, das schaut er sich manchmal an.
Doch nicht alle Kinder im Friedensdorf sehnen sich nach ihrem Zuhause. Wenn der dreizehnjährige Mohammad Reza von seiner afghanischen Heimat erzählt, zeichnet er ein trostloses Bild. Seine Mutter und seine kleine Schwester seien tot, erzählt er, gewaltsam ums Leben gekommen, mehr möchte er dazu nicht sagen. Und der Vater? "Er ist ganz alt und raucht immerzu. Ich will nicht zurück", sagt er fast zornig. So etwas hört Mitarbeiterin Jasmin Peters selten von den Patienten, aber sie ist zuversichtlich: "Spätestens wenn die Kinder im Flugzeug sitzen, steckt die Vorfreude der anderen an."
Zurück in die Heimat
Erst kurz vor Abflug erfahren die Kinder, dass es nach einem halben Jahr nun nach Hause geht. Das Friedensdorf will zu große Aufregung, aber auch Enttäuschungen vermeiden. Auch Hussain und Mohammad Reza sind diesmal dabei. Mitarbeiter des Roten Halbmonds in Kabul werden ihren Eltern erklären, wie die Kinder in Deutschland behandelt wurden. Krankengymnastik oder Medikamente brauchen die beiden nicht mehr, sie sind wieder ganz gesund. Nach einem halben Jahr Abwesenheit müssen sie jetzt nur wieder ankommen - in ihrer Kultur, ihrem Zuhause, in ihrer Familie.