Hilfe oder Drogen-Missbrauch?
22. November 2013Verstimmungen, Kopfschmerzen, Probleme im Magendarmtrakt: Die Liste der Nebenwirkungen nach einem Antidepressiva-Entzug sei lang, sagt Matthias Seibt vom Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener der Deutschen Welle. Neuere Mittel, sogenannte Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, könnten paradoxerweise sogar dazu führen, dass trotz Einnahme die Suizidgefahr steige - eine These, die seit Jahren in der Wissenschaft heftig diskutiert wird. Und trotzdem würden Antidepressiva wie "Smarties" verschrieben, glaubt er. "Es sind im Wesentlichen die Psychiater, die diesen Drogen-Missbrauch puschen." Der Grund seiner Meinung nach: Die Profitgier der Pharma-Unternehmen und die Bestechlichkeit der Ärzte.
Seibt, der mit seinem Verein die Interessen der Antidepressiva-Gegner vertritt, könnte sich in diesen Tagen zumindest bei der Quantität der Verschreibungen wieder einmal bestätigt fühlen. Denn die Medikamentendosen pro Einwohner sind laut einem am Donnerstag (21.11.2013) veröffentlichten Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) rasant angestiegen. "In den vergangenen zehn Jahren hat sich der Konsum in den OECD-Ländern sogar fast verdoppelt", sagt Valerie Paris, die sich bei der Organisation um Pharmazie-Fragen kümmert, im DW-Interview.
In Deutschland hat sich der Verbrauch sogar um den Faktor 2,15 Faktor erhöht. Dennoch lag er 2011 mit 50 Tagesdosen auf je 1000 Einwohner noch immer etwas unter dem OECD-Durchschnitt, der 56 Tagesdosen betrug. An der Spitze lagen laut dem Bericht Länder wie Island, Australien und Kanada: So nahmen in Island 2011 etwa zehn Prozent der Bevölkerung einen Stimmungsaufheller ein. 2000 waren es erst 7 Prozent. Schätzungen zufolge leiden inzwischen circa 350 Millionen Menschen weltweit unter einer Depression.
Einnahme in Deutschland mehr als verdoppelt
Die gestiegenen Verschreibungszahlen haben viele Gründe: "Das liegt unter anderem daran, dass behandlungsbedürftige Depressionen auch deutlich häufiger erkannt werden", erklärt Christa Roth-Sackenheim, Vorsitzende des Berufsverbands Deutscher Psychiater. So werde bei einem Patient, der zum Beispiel wiederholt über Schmerzen klagt, genauer hingeschaut.
Doch auch die wirtschaftliche Unsicherheit, die viele Menschen in den vergangenen Jahren gerade in Südeuropa erleben mussten, habe zu einer Zunahme der Verschreibungen geführt. Laut dem OECD-Bericht sind gerade in Ländern wie Spanien und Portugal die Raten um 20 Prozent gestiegen. Aber auch der Behandlungsradius hat sich vergrößert. Wurden Antidepressiva früher nur bei Depressionen verschrieben, werden sie mittlerweile auch bei chronischen Schmerzen oder Angststörungen eingesetzt.
Umstrittene Wirkung
Dabei ist die Wirkung von Prozac und Co. keineswegs sicher: Studien fanden bereits vor einigen Jahren heraus, dass neuere Antidepressiva bei leichteren bis mittleren Erkrankungen kaum besser wirkten als Scheinmedikamente. Auch das New England Journal of Medicine bemängelte: Etwa ein Drittel der Studien zu neueren Antidepressiva seien nie veröffentlicht worden. Damit habe man eventuelle Gefahren oder eben eine schwache Wirksamkeit verheimlichen wollen.
Neben der Angst vor zu wenig Wirkung treibt viele Menschen auch die Angst vor unerwünschter Wirkung um: "Leider haben wir noch kein sicheres Vorhersagesystem, wie jemand auf dieses Medikament reagiert", sagt Psychiaterin Roth-Sackenheim. Doch in der Regel führe die Medikamenteneingabe dazu, dass der Mensch seine sogenannte Primärpersönlichkeit wiederfindet, also seine individuellen Persönlichkeit vor Ausbruch der Erkrankung. Er kann wieder aktiv am Alltag teilnehmen. "Es gibt aber auch das Bild von Schizophrenie-Erkrankten, die mit Medikamenten behandelt wurden und später wie Zombies durch die Gegend laufen." In Gesprächen versuche sie diese Angst zu nehmen. Meist mit Erfolg: "Wer wirklich schon mal eine schwere Depression durchlitten hat, der tut auch alles, um da wieder rauszukommen."