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Europa

25. Juli 2011

Zwei Hauptstädte, ein Wirtschaftsraum: Für Finnen und Esten ist das fast schon Alltag. Täglich pendeln tausende Bewohner der Metropolregion im Nordosten Europas über die Ostsee zur Arbeit.

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Ein Blick von der Ostsee auf die Altstadt der estnischen Hauptstadt Tallinn (Foto: picture-alliance/ZB)
Ein Blick von der Ostsee auf die Altstadt der estnischen Hauptstadt TallinnBild: picture-alliance/ZB

Nur 80 Kilometer und 100 Fährminuten trennen die beiden Hauptstädte Estlands und Finnlands: Tallinn und Helsinki. Längst ist "Talsinki" zu einer europäischen Metropolregion verschmolzen, die diesen Namen tatsächlich verdient. Sprachprobleme gibt es dabei kaum: Estnisch und Finnisch gehören zur selben Sprachfamilie. Inzwischen stellen estnische Staatsbürger sogar die größte Ausländergruppe im Nachbarland Finnland. Noch enger zusammenrücken sollen Tallinn und Helsinki durch einen Eisenbahntunnel unter der Ostsee.

Mit dem Bus übers Meer

"Zur Arbeit pendeln mit Blick auf die Ostsee - wer hat das schon?" Jaak Raid blinzelt mit einem Grinsen im Gesicht durch die großen Scheiben der Expressfähre hinaus auf den finnischen Meerbusen. Die See ist ruhig, der Himmel klar. Das Boot hat um neun Uhr morgens im Hafen von Tallinn die Leinen losgemacht, "und bei dem Wetter sind wir pünktlich gegen halb elf in Helsinki", freut sich der estnische Geschäftsmann, der mit seinem Kollegen Andrus Uudmae einen der begehrten Fensterplätze ergattert hat. "Wir sind Aktionäre eines finnischen Unternehmens und fahren mehrmals im Monat nach Helsinki", erzählen die beiden Geschäftsleute hinter den Bildschirmen ihrer Laptops. "Für uns ist das wie Bus fahren."

Das Helsinki im morgendlichen Nebel (Foto: City of Helsinki Tourist & Convention Bureau)
Das Helsinki im morgendlichen Nebel - Ziel für viele Berufspendler aus EstlandBild: Niklas Sjöblom / City of Helsinki Tourist & Convention Bureau

Fähren sind ausgebucht

Den "Bus" über die Ostsee nehmen an diesem Montagmorgen nicht nur die Banker in Schlips und Kragen. Die Fähre ist voll von Menschen, die zur Arbeit fahren von einer Hauptstadt in die andere: viele Bauarbeiter, Handwerker und Busfahrer sind dabei. Jeden Monat sind es bis zu 400.000 Menschen, die die 80 Kilometer zwischen Estland und Finnland, Tallinn und Helsinki, hin- und herfahren. Besonders im Sommer, wenn die Tagestouristen dazu kommen, sind die bis zu 40 Fähren pro Tag oft ausgebucht. Neuerdings haben estnische Staatsbürger sogar die russischen Immigranten als größte Ausländergruppe in Finnland abgelöst: Knapp 30.000 Esten leben und arbeiten inzwischen laut finnischer Registrierungsbehörde vor allem im Großraum Helsinki.

Das Helsinki im morgendlichen Nebel (Foto: City of Helsinki Tourist & Convention Bureau)
Die schöne Altstadt von Tallinn - seit 2011 ist Estland das 17. Mitglied der EurozoneBild: dpa

Die Ländergrenzen scheinen aufgehoben zwischen Finnland und Estland - spätestens seitdem die Esten Mitglied der EU und Teil des Schengen-Raums sind und als letzten Schritt 2011 den Euro eingeführt haben. Genau darum sprechen viele Finnen und Esten scherzhaft von "Talsinki", wenn sie der Hauptstadtregion im Nordosten Europas einen Namen geben wollen. Den estnischen Schriftsteller Jaan Kaplinski wird das freuen, er hat den Begriff "Talsinki" in einem Essay Anfang der 90er Jahre quasi erfunden.

Bessere Löhne locken

Während die Expressfähre auf dem Weg Richtung Helsinki ist, hat Annika Funu-Cracker am Zielort schon die Hälfte ihrer Frühschicht hinter sich. Die 39-jährige Estin ist seit 20 Jahren Krankenschwester. Seit 2007 arbeitet sie in Helsinki, die ersten Jahre in der ambulanten Pflege, seit einigen Monaten auf der Reha-Station des Herttoniemi-Hospitals im Osten der Stadt. "Ich vediene hier ungefähr das Dreifache: 2500 statt 800 Euro in Estland", erzählt Annika während einer Dienstpause im Stationszimmer.

Hirngespinst Tunnel?

Noch näher zusammen rücken sollen Tallinn und Helsinki durch einen Eisenbahntunnel unter der Ostsee. Das zumindest ist die Vision von Ingenieuren, Verkehrsexperten und Politikern auf beiden Seiten des Finnischen Meerbusens. Ein wahrhaft ambitioniertes Projekt: Mit rund 90 Kilometern Länge wäre der Tunnel der mit Abstand längste seiner Art weltweit - fast doppelt so lang wie der Eurotunnel beispielsweise, der auf 50 Kilometern Länge unter dem Ärmelkanal verläuft. Laut einer von der estnischen Regierung in Auftrag gegebenen Studie würden sich die Kosten für das Mammutprojekt auf drei Milliarden Euro belaufen.

Eine Fähre auf der Ostsee in Richtung Helsinki (Foto: City of Helsinki Tourist & Convention Bureau)
Wozu ein Tunnel, wo es mit der Fähre doch so einfach geht?Bild: Paul Williams / City of Helsinki Tourist & Convention Bureau

Das ansonsten als moderat geltende Finnland hat Mitte April die rechtspopulistischen "Wahren Finnen" zur stärksten Oppositionspartei gewählt, und der weltgrößte Hersteller von Mobiltelefonen Nokia ist angeschlagen - nicht gerade die besten Voraussetzungen, um für ein visionäres Verkehrsprojekt unter der Ostsee zu werben. Dennoch hat die Tunnel-Idee für viele ihren Reiz. "Das ist technisch machbar, und ich halte das für kein Hirngespinst", sagt etwa Roope Mokka. Der Soziologe und Zukunftsforscher ist Gründer des Demos-Institus in Helsinki, das Zukunfsmodelle urbaner Räume untersucht und entwirft. "In zehn Jahren könnte es frühestens soweit sein, dass ein Tunnel gebaut wird."

Auch die Banker Jaak Raid und Andrus Uudmae haben von der Tunnel-Idee gehört, sind da aber eher skeptisch: "Wer soll das bezahlen?" Wenn sie am selben Abend ihre Termine in Helsinki erledigt haben, fahren sie ganz profan zurück nach Tallinn - oberirdisch: "Mit dem Bus über die Ostsee."

Autor: Christoph Kersting
Redaktion: Henrik Böhme