Mural-Kunst für Harriet Tubman
9. März 2022Washington DC liegt nur gut zwei Autostunden entfernt, doch es ist eine Zeitreise. "Tubman Country" nennen die Bewohnerinnen und Bewohner diesen Landstrich an der Ostküste der USA stolz. Der friedliche, maritime Ort war einst ein berüchtigter Schauplatz des Sklavenhandels. 1619 legte hier das erste Sklavenschiff an – mit Afrikanerinnen und Afrikanern, die im heutigen Angola gekidnappt wurden.
Schwarze Jeanne d'Arc
Hier, auf einer Landzunge zwischen Chesapeake Bay und Atlantik, wurde Harriet Tubman geboren - vermutlich zwischen dem 1. und 15. März 1822, so genau weiß das niemand. Sie war Sklavin von Geburt an, später Aktivistin einer geheimen Befreiungsorganisation und Kämpferin für das Frauenwahlrecht und die Rechte der Schwarzen.
Am Ortseingang des 12.000-Seelen-Städtchens Cambridge im US-Bundesstaat Maryland wartet Künstler Michael Rosato. Der Mittfünfziger steht vor seinem 50 Quadratmeter großen Wandbild "Reflections on Pine" (Artikelbild). Das riesige, bunte Mural zeigt Tubman als Anführerin der Fluchtorganisation "Underground Railroad" inmitten der afroamerikanischen Gemeinschaft.
Verschobene Perspektive
Was sofort ins Auge springt - die Perspektive scheint verschoben: Nicht wir schauen auf Harriet, sondern sie fixiert uns als Betrachter. Tubman ist als alte Frau mit Kopftuch und Mantel dargestellt und steht in einem Maisfeld. Über ihr ein Militärflugzeug. Daneben eine Heldenreihe schwarzer Künstler, Wissenschaftler und Politiker. "Harriet gehörte zu jenen besonderen Menschen, deren Geist stärker war als alles andere", sagt Michael Rosato, "dafür braucht man Mut, Glaube und Kraft."
Er habe Tubman ins Zentrum seines Bildes gesetzt, weil sie für viele Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner eine Inspiration war. "Viele dachten: Wenn sie das kann, dann kann ich das auch. Harriet hat ein spirituelles Erbe hinterlassen", so der Künstler.
Afroamerikanische Geschichte XXL
Dieses Erbe sorgte für eine aktive schwarze Bürgerrechtsbewegung in Cambridge. Geschäfte, Cafés und Schulen belebten einst die Straße der schwarzen Community. Bis es in den 1960er-Jahren zu Aufständen und Straßenkämpfen mit der Polizei kam. Auch daran erinnert das Mural. "Das Wandbild erzählt diese Geschichte der afroamerikanischen Gemeinschaft", erläutert Rosato. "Harriet Tubman steht für die unbändige Geisteskraft, die dies alles erst ermöglicht hat."
Rosato hat sich auf XXL-Formate spezialisiert. Mit seinen Arbeiten im öffentlichen Raum hat er für Diskussionen gesorgt und große Zustimmung erhalten. "Ich wollte, dass sich Weiße und Schwarze mit diesem Motiv identifizieren."
"Nimm' meine Hand"
Rosatos zweites Wandbild ("Take my hand") zeigt Tubman am Fluss: Sie scheint aus dem Bild über eine Mauer zu steigen und streckt den Betrachtenden die rechte geöffnete Hand entgegen. Ein Foto von einem Mädchen, das der überlebensgroß gemalten Tubman symbolisch die Hand reicht, ging 2019 in den sozialen Netzwerken um die Welt.
Da sei diese aufgestaute Wut gewesen, die die USA verändert habe, sagt Rosato. "Die afroamerikanische Gemeinschaft hatte es satt, dass die Polizei auf sie schoss." Und mit einem Mal ging es nicht nur um das Gemälde, sondern auch um das kleine Kind, das Tubman berührt. "Ein Mädchen aus der Gegenwart berührt die Hand einer Frau, die vor 200 Jahren gelebt hat. Das ist Poesie, die zu uns spricht. Sie lässt uns das Mädchen sein oder die Frau aus der Vergangenheit, die ihr die Hand reicht."
Murals im ganzen Land
Mittlerweile wird der Mural-Künstler von Museen, Universitäten und Stadtverwaltungen im ganzen Land beauftragt. Seine plakativen Wandbilder "hängen" in Oklahoma City, Fort Worth, im Smithsonian Museum Washington DC und an vielen anderen Orten. Sie zeigen meistens historische Persönlichkeiten, Alltagsszenen oder einfache Landarbeiterinnen und -arbeiter. Aber auch die Tierwelt malt Rosato an die Wände, so wie beim Mural "Big Bird" am Chesapeake Country Scenic Byway in Maryland.
Es gibt nur wenige Fotos von Harriet Tubman. Immer blickt sie ernst in die Kamera. So auch auf dem bekanntesten Schwarz-Weiß-Bild von 1895, das die damals 73-Jährige zeigt. Rosato dagegen hat die Sklavenbefreierin im Alter von 30 Jahren gemalt. Für "Take my hand" nutzte er zwar das historische Bild als Vorlage. Doch Rosato wollte eine junge, rebellierende Harriet zeigen: auch als Vorbild für die Black-Lives-Matter-Bewegung.
Das Mural von Michael Rosato ist nicht nur ein Porträt von Harriet Tubman. Es ist auch ein Landschaftsbild und zeigt den Ort, in der die einstige Sklavin lebte. Dort, wo sie als "Eigentum" eines weißen Plantagenbesitzers schuften musste und als Sechsjährige Peitschenschläge erhielt.
Fenster in die Gegenwart
Wenn man das Wandbild betrachtet, blickt man in die Vergangenheit, erklärt Rosato. Man erkennt die Kiefern, die Pinien und das Wasser. Er habe den Rahmen des Mauerwerks genutzt, um eine optische Finesse einzubauen. "Auf dem Wandbild bröckelt die Mauer nicht nur, sie öffnet sich, als ob sie auseinandergenommen worden wäre. Als ob die Grenze zwischen uns in der Gegenwart und Tubman in der Vergangenheit teilweise entfernt worden wäre." Rosato wollte, dass seine Protagonistin die Grenzen von Zeit und Raum überwindet. "Sie schlägt eine Brücke und tritt aus ihrer Zeit heraus, weil sie uns, den Betrachtern in der Gegenwart, ihre Hand reicht."
Dabei geht es auch um eine späte Wiedergutmachung, mit der sich viele US-Regierungen so schwergetan haben. Tubman verhalf nicht nur hunderten Landsleuten in die Freiheit. Sie kämpfte auch im Bürgerkrieg gegen die Südstaaten und kundschaftete unter Lebensgefahr Stellungen der Konföderierten aus. Trotz ihrer Verdienste verweigerte man ihr eine Pension. Erst im hohen Alter, kurz vor ihrem Tod 1913, erhielt sie eine monatliche Rente für ihre Arbeit als Krankenpflegerin. Sie wurde 91 Jahre alt.