Hamilton: Anarchist oder Genie?
28. November 2016Immer wieder kamen die Anweisungen aus der Box: "Lewis, wir brauchen eine 1:49,1 für den Sieg". Aber Lewis Hamilton ignorierte die eindringlichen Worte aus dem Kommandostand des Mercedes-Rennstalls. Er bummelte, wollte so die Konkurrenz herankommen lassen, um doch noch seine Chance auf die Titelverteidigung zu wahren. Denn ein Sieg für ihn und gleichzeitig Platz vier für Nico Rosberg - das hätte gereicht.
Rosberg wurde trotz der Verzögerungstaktik des Briten Weltmeister. Und Hamilton hat nicht nur den Titel verloren, sondern auch jede Menge Vertrauen. Motorsportchef Toto Wolff schloss Konsequenzen für Hamilton nicht aus. "Anarchie funktioniert in keinem Team und in keinem Unternehmen", warnte der Österreicher. "Es geht darum, eine Lösung zu finden, wie man so etwas in der Zukunft verhindert. Wir haben den Rennsieg in Gefahr gesehen. Seit drei Jahren ordnen wir alles dem Rennsieg unter", begründete Wolff seinen Ärger, da Ex-Weltmeister Sebastian Vettel im Ferrari als Dritter auf den letzten Runden richtig aufdrehte.
Rosberg als generöser Sieger
Rosberg, seit Jahren eher Konkurrent denn Kollege Hamiltons, gab sich im Sieg verständnisvoll: "Das habe ich nicht erwartet, es war vielleicht ein bisschen naiv", meinte er über die Taktik Hamiltons. "Man kann die Teamseite verstehen, man kann aber auch Lewis verstehen, weil es um die Weltmeisterschaft geht."
Beim Mercedes-Team sieht man die Sache offenbar nicht so gelassen. Schließlich war Hamilton in der Vergangenheit schon öfter renitent. Auch in Abu Dhabi war es nicht nur die Taktik-Order von Renningenieur Peter Bonnington, der sich Hamilton widersetzte, sondern auch die Anweisung von Technikdirektor Paddy Lowe. Wolff beschrieb diese Intervention von der Box als die "höchste Eskalationsstufe", die es im Formel-1-Team für solche Fälle gebe. "Ich verliere gerade die WM, da ist es mir egal, ob ich dieses Rennen gewinne oder verliere", lautete einer der Funksprüche des trotzigen Chauffeurs aus dem Cockpit.
Britische Presse spekuliert über Rauswurf
"Wir müssen mit dem Lewis reden, wir müssen wissen, was los ist", empfahl Teamaufsichtsrat Niki Lauda. Wolff mahnte sich selbst zur Besonnenheit. "Ich muss mir jetzt erstmal eine Meinung bilden", meinte er und deutete Verständnis für seinen bitter enttäuschten Piloten an: "Vielleicht kann man von einem Rennfahrer, der einer der Besten ist, wenn nicht sogar der Beste, nicht verlangen, dass er in die Anweisungen in so einer Situation befolgt, in der ihn seine Instinkte davon abhalten."
Die britischen Medien gehen indes mit "ihrem" Mann hart ins Gericht: "Mercedes denkt über disziplinarische Maßnahmen nach, was eine Geldstrafe oder sogar Suspendierung bedeuten könnte", schrieb der "Guardian" am Montag. Die "Times" befand: "Hamilton verließ Abu Dhabi ohne Anstand." Und der "Daily Express vermutet gar: "Hamilton droht der Rauswurf." Der "Daily Mirror" ("Lewis Hamilton steht bei Mercedes vor der Entlassung") und die "Daily Mail" ("Hamilton riskiert die Auflösung seines 30-Millionen-Pfund-Vertrages, nachdem er sich wiederholt seinem Team widersetzt hat") stoßen ins selbe Horn.
Ein Rauswurf und auch eine Sperre sind allerdings kaum denkbar. Der dreimalige Weltmeister ist auch nach dem Verlust des Titels an seinen Teamrivalen Rosberg ein wichtiger Angestellter des Mercedes-Werksteams. Sportlich ist und bleibt er der vielleicht talentierteste Fahrer im Feld, als globale Marke ist Hamilton zudem ein wichtiger Werbeträger.
to/sn (sid, dpa)