"Haiti geht es so wie am Tag des Bebens"
12. Januar 2011Auch ein Jahr nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti lassen die Sorgen Natascha Silbersdorf nicht los: das total zerstörte Port-au-Prince, die vielen Opfer, die verschüttet wurden, das völlige Chaos, welches das ganze Land in den Wochen und Monaten danach erfasst hat.
Nationales Trauma unvorstellbaren Ausmaßes
Die Exil-Haitianerin lebt in Duisburg, aber sie telefoniert auch heute noch regelmäßig mit ihren Verwandten in Haiti. Doch auch heute noch wird sie oft von ihren Gefühlen übermannt: "Das ist für mich alles zu viel, ich weiß oft gar nicht, was ich sagen soll", erzählt sie und ist froh, dass ihre Familie ihr Mut macht. "Reiß dich zusammen!," hört sie dann oft, "wir sind in diesem Elend hier und müssen auch nach vorne blicken und das Beste daraus machen." Natascha Silbersdorfs Vater, ein paar Geschwister und noch viele weitere Verwandte leben in Port-au-Prince, in einem Mietshaus, das zum Glück nur leichte Schäden davongetragen hat. "Sie haben viel Glück gehabt", sagt Natascha nur: Ist ja für mich nur beruhigend, wenn ich höre: Ist alles in Ordnung in der Familie." Einen Bruder hat Natascha hat bei dem Beben verloren. 222.000 Menschen – so die offizielle Schätzung – wurden unter den Trümmern begraben. Es gibt kaum eine Familie ohne Opfer.
Von einer Katastrophe nationalen Ausmaßes spricht denn auch der Haitianer Yves Polynice, der als Arzt in einem Krankenhaus in Hilden arbeitet. Er macht sich vor allem Sorgen, dass das vergangene Jahr ein bleibendes Trauma in der Bevölkerung hinterlassen hat. Er vergleicht das Erdbeben mit dem Unfall bei der Loveparade im August 2010 in Duisburg. Damals waren bei einer Massenpanik 21 Menschen ums Leben gekommen. "Die Menschen, die das miterlebt haben, konnten das kaum verstehen," sagt Polynice. Und wenn man das mit einer Stadt wie Port-au-Prince vergleicht, wo zehn Prozent der Bevölkerung innerhalb einer Minute einfach verschwunden seien, könne man sich das Ausmaß dieser Katastrophe erst vorstellen.
Erodiertes Vertrauen in die UNO
Und damit war der Schrecken für Haiti ja noch nicht vorbei. Kurz nach dem Beben fegten Wirbelstürme über das Land. Die Cholera brach aus. Noch einmal rund 3.500 Haitianer sind bislang an den Folgen der Epidemie gestorben, die bis heute nicht völlig eingedämmt werden konnte. Viele Haitianer sind der Meinung, UN-Soldaten aus Nepal hätten die Cholera eingeschleppt. Auch Polynice hält diese Theorie zumindest für möglich. Der Verdacht konnte zwar bislang weder bestätigt noch widerlegt werden. Besonders schlimm sei aber, sagt Polynice, dass er das Vertrauen der Bevölkerung in die UNO komplett untergraben habe.
Wahlen zum falschen Zeitpunkt
Vor diesem Hintergrund kann Polynice auch nicht verstehen, dass der Westen Haiti dazu gedrängt hat, für Ende 2010 eine Parlaments- und Präsidentschaftswahl anzusetzen. "Diese Wahl war schlecht vorbereitet", schimpft der Exil-Haitianer, "denn ein Jahr nach dem Erdbeben es waren immer noch 1,3 Millionen Menschen obdachlos. Diese Cholera hat fast 150.000 Menschen betroffen, und die Menschen hatten andere Probleme als zur Wahl zu gehen. Und jetzt stehen wir da, und diese Wahl wird nicht anerkannt, weder von den Politikern noch von der Bevölkerung."
Auch das ist ein Grund, warum Polynice auf die UNO-Mission, die schon seit 2004 versucht, Haiti zu stabilisieren, nicht besonders gut zu sprechen ist. "Die UNO hat kaum was gebracht", konstatiert er bitter. Port-au-Prince liege immer noch unter den Trümmern. Die Wirtschaft funktioniere nicht. 80 Prozent der Haitianer in Port-au-Prince seien arbeitslos. Die Versorgung mit Medikamenten, Nahrungsmitteln und Trinkwasser sei nach wie vor schlecht. "Nach einem Jahr", zieht der haitianische Arzt traurig Bilanz, "ist die Situation genauso schlecht wie am Tag des Erdbebens."
Hilfe aus Deutschland
Um die Not seiner Landsleute zumindest ein wenig zu lindern, leitet Yves Polynice selbst eine kleine Hilfsorganisation für sein Heimatland: Haiti-med unterhält drei Sanitätsstationen in Port-au-Prince und Umgebung. Die Organisation wird von vielen Exil-Haitianern in Deutschland unterstützt - auch von Natascha Silbersdorf. Von Deutschland aus versucht sie, bei Haiti-med mitzuhelfen, etwa indem sie Spendengelder einsammelt. Mit diesen will die Organisation jetzt eine Schule in Haiti bauen. Bildung ist für Natascha auf lange Sicht der einzig richtige Weg, ihre Heimat aus dem Elend zu befreien. 200 Jahre lang hing Haiti am Tropf des Auslands. Nur mit der richtigen Schulbildung könne sich das langfristig ändern, glaubt Natascha: Der Wille ist bei den Haitianern da," ist sie überzeugt: "Nur ohne die richtige Organisation, ohne Plan bleibt alles chaotisch."
Autor: Thomas Latschan
Redaktion: Sven Töniges