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"Sexuelle Gewalt trifft uns wirtschaftlich"

Elisabeth Lehmann10. Juni 2014

Während der Feiern zur Amtseinführung des Präsidenten kam es in Kairo zu sexuellen Übergriffen auf Frauen. Dass sieben Männer festgenommen wurden, ist für den Aktivisten Mohammad Habibi ein positives Zeichen.

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Feiernde Menschen auf dem Tahrir-Platz in Kairo - Foto: Khaled Desouki (AFP)
Bild: Khaled Desouki/AFP/Getty Images

Deutsche Welle: Was ist auf dem Tahrir-Platz in der ägyptischen Hauptstadt Kairo am Sonntag (08.06.2014) konkret passiert?

Mohammad Habibi: Ich kann nur sagen, was ich selbst gesehen habe. Ich habe einen Mob gesehen, der ein Mädchen auf dem Tahrir angegriffen hat, mitten auf dem Platz. Meiner Ansicht nach waren 50 bis 100 Leute daran beteiligt. Die Polizei hat eingegriffen, hat mehr als einmal in die Luft geschossen und es wurden auch Feuerwerkskörper abgefeuert, um die Menschen auseinander zu treiben. Und nach 15 bis 20 Minuten haben sie es dann geschafft, das Mädchen zu befreien und es ins Krankenhaus zu bringen. Nichtregierungsorganisationen berichten, dass es an diesem Abend fünf Vorfälle dieser Art gab. Alle Opfer kamen ins Krankenhaus.

Was sagen solche Vorfälle über eine Gesellschaft?

Sagen wir so: Wir haben ein Problem, was sexuelle Übergriffe angeht, und jeder in Ägypten weiß, dass wir dieses Problem haben. So etwas passiert immer wieder bei Festen, Demonstrationen und Protesten. Eine Besserung gibt es hoffentlich, wenn das neue Gesetz gegen sexuelle Gewalt in den kommenden Jahren Wirkung zeigt.

Kritiker sagen, dieses Gesetz, das seit ein paar Tagen gilt, habe Schwächen. Das Opfer muss den Belästiger festhalten und zudem Zeugen finden, die den Vorfall bestätigen.

Ja, das ist ein Problem und das haben wir als Nichtregierungsorganisation auch schon diskutiert. Nichtsdestotrotz: Vorher gab es gar kein Gesetz. Bisher war es so, dass das Opfer zwar den Belästiger zur Polizei bringen konnte, aber es gab ja keine Straftat "sexuelle Belästigung". Die Tat konnte also rechtlich gar nicht verfolgt werden. Und nun haben wir ein Gesetz. Natürlich muss noch eine ganze Menge daran gearbeitet werden. Wir fragen auch die Regierung, wie sie dieses Recht umsetzen will. Das ist die Frage nach dem Vorfall am Sonntag. Wie wird ein Mädchen in der Polizeiwache behandelt und wie wird mit dem Fall verfahren, bis er vor Gericht kommt.

Hat die Polizei vergangenen Sonntag schnell genug reagiert?

Alle, die auf dem Platz waren, haben schnell reagiert. Auch die jungen Polizisten, die das Mädchen aus der Situation befreit haben. Ich habe viel Einsatzbereitschaft vonseiten der Polizei gesehen und weiß das zu schätzen. Aber die Zahl der Polizisten zu dieser Zeit war nicht groß genug, um solch einen Vorfall zu verhindern. Die Polizei sollte Vorsorge treffen. Sie sollte sexuelle Übergriffe verhindern, bevor sie geschehen. Aber die Polizisten haben sehr schnell eingegriffen, was vorher bei all den anderen Vorfällen auf dem Tahrir nicht der Fall war. Diesmal haben sie die Belästiger festgenommen und sie haben das Mädchen gerettet.

Im Internet ist ein Video aufgetaucht, das mutmaßlich den von Ihnen beschriebenen Vorfall zeigt. Es sind aber auch schon erste Zweifel laut geworden, ob dieses Video wirklich am Sonntag gedreht wurde.

Ich habe gestern in einer ägyptischen Talkshow den Polizisten gesehen, der das Mädchen gerettet hat und er hat bestätigt, dass das Video echt ist.

Aber ist die Veröffentlichung solcher Aufnahmen der richtige Weg, um der Gesellschaft bewusst zu machen, was da passiert? Oder schadet es nicht mehr dem Opfer und seinem Ansehen, wie einige Kritiker sagen?

Was den Ruf angeht: Das Mädchen ist ohnehin schon schwer getroffen, emotional und mental. Ich hoffe, ihre Identität wird nicht preisgegeben, sonst wird es für sie schwer, ins Leben zurückzufinden. Wir als Regierungsorganisation zeigen niemals das Opfer auf unserer Internetseite. Auch nicht das Gesicht des Belästigers.

Präsident al-Sisi hat den Vorfall verurteilt und gefordert, dass die Gesellschaft gemeinsam gegen das Problem vorgehen muss. Hilft solch ein Statement des Präsidenten?

Ich würde sagen, ja. Und ich schätze die schnelle Reaktion von Präsident Sisi sehr. Die Verurteilung der Vorfälle wird sicher helfen, denn nun wird auch auf Regierungsebene an diesem Problem gearbeitet.

Warum treten gerade in Ägypten so viele Fälle von sexueller Belästigung auf?

In den 1960er und 70er Jahren gab es keine Fälle von sexueller Belästigung. Die Mentalität der Ägypter muss sich also geändert haben. Also, müssen wir sie ja auch wieder in die andere Richtung ändern können. Das ist nur eine Frage der Zeit und das neue Gesetz wird helfen: "Du hast etwas falsch gemacht, und dafür wirst du bestraft." Die Mehrheit der Leute wird es also nicht noch einmal machen. In den vergangenen drei Jahren wurde niemand vor Gericht gestellt, keiner wurde angeklagt, niemand hat eine Strafe bekommen.

Und warum engagieren Sie persönlich für Frauenrechte?

Ich bin ein Geschäftsmann, ich bin also kein Vollzeit-NGO-Mitarbeiter. Ich mache das jetzt seit eineinhalb Jahren, denn ich sehe, dass Frauen belästigt werden. Und ich bin der Meinung, Frauen haben das Recht, sich frei zu bewegen. Das habe ich in allen westlichen, entwickelten Ländern gesehen. Sexuelle Gewalt trifft uns auch wirtschaftlich. Die kommenden Generationen werden ebenso betroffen sein, denn wenn Frauen ihre Kinder in dem Glauben erziehen, man könne sich nicht frei auf der Straße bewegen, dann werden diese Kinder auch mental gestört sein. Auch sie werden sich dann nicht auf die Straße trauen und nicht arbeiten. Frauen machen 50 Prozent unserer Gesellschaft aus. Das wird sich also immer schlimmer auf unsere Wirtschaft auswirken.

Mohammad Habibi ist Mitglied der Nichtregierungsorganisation (NGO) I Saw Harassment. Die Organisation versucht vor allem, Fälle von sexueller Belästigung zu dokumentieren und Opfern schnelle psychologische und juristische Hilfe zu bieten.

Das Gespräch führte Elisabeth Lehmann in Kairo.