Gärtner im Schreibfieber
23. August 2004Von 8 bis 17 Uhr sitzt Christian von Montfort in einem kleinen Büro. Im schnieken Anzug errechnet er Gewinnspannen und erstellt Investitionspläne. Doch nach Feierabend wird aus dem Finanzexperten ein Literaturkritiker. Historische Thriller à la Ken Follett werden im Eiltempo verschlungen und Bewertungen verfasst. Christian von Montfort ist einer der Toprezensenten beim Internetanbieter Amazon. Er hat schon über 250 Bücher besprochen und liegt damit auf Platz 20 der Kritikerliste. "Ich lese mindestens zwei Bücher in der Woche und schreibe immer auch eine Besprechung dazu. Das hilft mir, meine Gedanken zu ordnen", sagt der 32-jährige Bonner.
Einflussreiche Spontankritik
Seit zwei Jahren können deutsche Hobbykritiker auf den Amazonseiten Bücher beurteilen, CDs verreißen oder Gartenzäune empfehlen. Dabei wird nach der Anzahl der Rezensionen eine Topliste erstellt. Doch nicht nur die Menge ist entscheidend, um in den "Olymp der Onlinekritik" zu kommen, sondern auch, inwieweit die Besprechung von anderen Usern als positiv bewertet wurde. "Mehr als 1000 Leute fanden meine Empfehlungen bis jetzt hilfreich. Es ist cool zu sehen, was für eine Wirkung meine Meinung haben kann. Davon können Literaturkritiker aus den Zeitungen nur träumen", erklärt Christian von Montfort mit einem schelmischen Lächeln.
In der Tat haben die Literaturbesprechungen im World Wide Web die Buchkritik revolutioniert. Der Kritiker wird aus seinem Elfenbeinturm heruntergeholt und mitten auf den Marktplatz gesetzt. Seine Meinung zählt da, wo es sich auszahlt, wo Literatur nicht Selbstzweck ist, sondern Konsumware. Statt in einer hochtrabenden Sprache einem fernen Kunstideal nachzueifern, wird handfeste Spontankritik als Orientierungshilfe im Bücherdschungel gegeben. Vom "lustigsten Buch im Universum" ist die Rede, von "Instant-Klassikern" und "Haudegen-Romanen". Die Rezensenten sind in den seltensten Fällen Literaturwissenschaftler. Vielmehr findet man Möbelverkäufer, Gärtner und KFZ-Mechaniker unter ihnen. Sie lesen im Turbotempo und verfassen honorarfrei in ihrer Freizeit "Oden an die Literatur". Das führt letztendlich zu einer Demokratisierung der Literaturkritik.
Lebendige Gleichstellung
Die Laienbesprechungen werden zu einem Massenphänomen und zu einer ernsthaften Konkurrenz, wie die immens hohen Zugriffszahlen beweisen. Das mag auch daran liegen, dass viele Hobbykritiker sich auf Trivial- oder Genreliteratur wie Science Fiction und Fantasy spezialisiert haben. Also auf jene literarischen Spielarten, die trotz ihrer hohen Verkaufszahlen in den Feuilletons selten Beachtung finden. Im Gegensatz zu der Besprechung in Zeitungen, wird die Rezension bei Amazon nicht von einem Redakteur durchgesehen. "Wir greifen nie in die Texte ein, solange sie nicht obzsön oder beleidigend sind", erklärt Christene Höger, Pressesprecherin bei Amazon Deutschland. Ziel sei es, ein Forum zu bieten, das glaubwürdig und lebendig sei. Nicht selten entstünden hitzige Debatten, etwa über den neusten Harry Potter-Band, die an Lebendigkeit jede Fernseh-Kritikerrunde überträfen.
Verdeckte Eigenwerbung
Doch die Internet-Literaturkritik birgt auch Gefahren in sich. Im Februar machte Amazon in den USA die Internetadressen Tausender ihrer Rezensenten publik, und siehe da: Hinter Pseudonymen wie "A Reader from Chicago" oder "New York" verbarg sich nicht selten der Autor selbst. Das dürfte im deutschsprachigen Raum ähnlich sein.
Doch es gibt auch genügend Leute, die ihre Texte unter ihrem wirklichen Namen ins Netz stellen. Oftmals gibt es noch Appetithappen aus dem eigenen literarischen Werk samt Emailadresse. "Natürlich geht es auch um Eitelkeit. Wenn ich schon was Kluges zu einem Buch schreibe, will ich auch, dass jeder weiß, dass es von mir kommt", erklärt der Hobbykritiker Christian von Montfort.
Berühmte Leseratten
Im Gegensatz zu den Amazon-Rezensentenlisten in den USA, gibt es auf den deutschen Seiten auch keine Bilder zu den jeweiligen Kritikern. Ein weiterer Unterschied: bei amazon.de sucht man vergeblich nach Berühmtheiten. Ganz im Gegensatz zu amazon.com. Newt Gingrich etwa ist auf Platz 488 der amerikanischen Rezensentenliste. Bis vor fünf Jahren war er der drittmächtigste Mann der Vereinigten Staaten, Sprecher des Repräsentantenhauses, zuvor Fraktionschef der Republikaner und Hoffnungsträger aller Clinton-Gegner.
Politisch etwas ins Abseits gerückt, verfasst er nun leidenschaftliche Artikel über Militärgeschichte und Staatstheorie. Doch im Grunde schlägt das Herz des republikanischen Hobbykritikers für das Triviale: Verschwörungsthriller à la Frederick Forsyth gehören zu seiner Schlaflektüre. Und Romane mit Titeln wie "City of Bones" oder "Red Rabbit" bekommen von ihm stets fünf Sterne.