Große gegenseitige Toleranz: Christen und Muslime in Afrika
15. März 2024Das gemeinsame Fastenbrechen im Ramadan ist in Sierra Leone nicht auf Muslime beschränkt. Auch Christen stellen ihren muslimischen Freunden und deren Familien Essen bereit.
Der Fastenmonat Ramadan, der für Muslime auf der ganzen Welt eine Zeit des Fastens, Betens und Innehaltens darstellt, hat in Sierra Leone am Montag begonnen. In dem westafrikanischen Land bekennen sich 77 Prozent der Einwohner zum Islam und 22 Prozent zum Christentum. Die beiden Religionen haben ein stabiles Miteinander entwickelt, das auch den Bürgerkrieg überstanden hat, durch den zwischen 1991 und 2002 geschätzt 50.000 Menschen ums Leben kamen.
"Beim Thema Religion ist Sierra Leone einzigartig", sagt Mariama Binta Caulker, die mit einem Pastor verheiratet ist, im DW-Gespräch. "Wir glauben, dass Christen und Muslime keine Unterschiede haben. Worauf es ankommt, sind unsere Herzen."
Sierra Leones beneidenswerte religiöse Toleranz
Zahlreiche Studien untermauern Caulkers Aussage. Dazu zählt eine 2022 in Freetown durchgeführte Studie des Hamburger GIGA-Instituts. Einer der Befunde: Viele Bewohner der Hauptstadt unterhalten "enge soziale Beziehungen" mit Menschen anderen Glaubens, sagt Doktorandin Julia Köbrich, die an der Studie mitgewirkt hat - und das sei "recht ungewöhnlich".
"Menschen leben in interreligiösen Familien, in denen beispielsweise Vater und Mutter unterschiedlichen Glaubensrichtungen angehören. Sie haben Freunde aus verschiedenen Religionen, oft haben sie sich in der gemeinsamen Schulzeit angefreundet. Aber auch an anderen Orten gibt es viel interreligiöse Durchmischung", sagt Köbrich der DW. Die Sierra Leoner zeigten großen Respekt für Angehörige verschiedener Religionen, erläutert die Forscherin - und zwar sowohl in ihrem Umgang mit ihnen als auch im Gespräch über sie. "Sie zeigen, dass sie Angehörige anderer Religionen als gleichwertig sehen."
Bailor Amid Saheed Kamara bezeichnet sich selbst als gutes Beispiel für Sierra Leones Offenheit gegenüber unterschiedlichen Religionen: "Ich habe gerade eine Christin geheiratet und versuche in keiner Weise, sie für meinen Glauben zu gewinnen. Ich habe Freunde und sogar Geschwister, die Christen sind. So läuft das hier, seitdem ich geboren bin. Wir leben friedlich zusammen, es gibt keine Feindseligkeiten."
Im vergangenen Juni bestätigten die mehrheitlich muslimischen Sierra Leoner sogar ihren Präsidenten Julius Maada Bio im Amt - einen Christen, der mit einer Muslima verheiratet ist.
Afrika ist tief religiös
Ähnlich wie in Sierra Leone existiert auch in vielen anderen afrikanischen Ländern südlich der Sahara eine große religiöse Toleranz. Das mag auf den ersten Blick überraschen - schließlich gilt Afrika als zutiefst religiöser und dabei mitunter konservativ eingestellter Kontinent, zum Beispiel beim Umgang mit sexuellen Minderheiten, Abtreibung oder Sex vor der Ehe.
Laut einer Afrobarometer-Studie von 2020 ist Afrika der religiöseste Kontinent der Welt: 95 Prozent seiner Bewohner bezeichnen sich als gläubig. Mit 56 Prozent gehören mehr als die Hälfte einer christlichen Untergruppierung an, 34 Prozent sind Muslime.
Grob vereinfacht kann man die beiden Religionen auch geografisch verorten: Muslime findet man vor allem im Norden des Kontinents; Christen weiter im Süden. Dazwischen erstreckt sich eine Übergangszone von Guinea, Sierra Leone und Liberia im Westen bis nach Äthiopien und Eritrea im Osten, in der einzelne Länder eher christlich oder muslimisch geprägt sind.
Starke Kultur der religiösen Harmonie
Das Afrobarometer gibt auch einen Einblick in die Kultur der religiösen Toleranz: Im Durchschnitt der verschiedenen Länder sagten 87 Prozent, dass sie "sehr mögen", "eher mögen" oder "gleichgültig" eingestellt sind, wenn ihre Nachbarn einer anderen Religion angehören. In Côte d'Ivoire und Gabun war der Wert mit 98 Prozent am höchsten, gefolgt von Sierra Leone (94 Prozent). Dieser Toleranz-Indikator war in Sudan (65 Prozent) und Niger (56 Prozent) am niedrigsten ausgeprägt.
Auch auf der rechtlichen Ebene ist religiöse Harmonie teilweise verankert: Von den weltweit 47 Ländern mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung schützen zwar nur elf das Recht auf Religionsfreiheit in ihrer Verfassung oder einzelnen Gesetzen. Von diesen elf befinden sich jedoch gleich acht in Afrika, darunter Senegal, Gambia und Sierra Leone. "In der Region existiert eine Kultur interreligiöser Harmonie, die im weltweiten Vergleich eher unüblich ist", schreibt der Politikwissenschaftler Daniel Philpott in seinem Buch "Religiöse Freiheiten im Islam".
Bröckelt der Religionsfriede?
Doch es gibt auch Anzeichen für Probleme, etwa in Nigeria, Mali, Burkina Faso und auch in Gambia. Darunter finden sich Anstiege von religiös motivierter Gewalt und religiösem Extremismus, aber auch die Ausgrenzung von religiösen Minderheiten. In Nigeria gaben 22 Prozent der Befragten laut Afrobarometer an, in den zurückliegenden zwölf Monaten religiöse Diskriminierung erfahren zu haben. Das war der höchste Wert unter den 34 betrachteten Ländern. Zum Vergleich: In Sierra Leone berichteten nur sechs Prozent von solchen Erfahrungen.
Auch dort gibt es Herausforderungen im Bereich religiöser Toleranz, betont Sozialwissenschaftlerin Julia Köbrich. Doch die Gesellschaft von Sierra Leone unternehme Anstrengungen, um für Frieden zu werben und verschiedene Gruppen zur Lösung von Problemen zusammenzubringen - und zwar nicht nur religiösen Problemen.
In Freetown ist die Kultur der interreligiösen Harmonie während des Ramadan allgegenwärtig. "In dieser Zeit ist jeder Sierra Leoner direkt oder indirekt ein Muslim", sagt der Christ Joseph Mannah Brima. "Wir teilen alles miteinander, wir beschenken uns gegenseitig. Christen bereiten Essen vor - das tun sie für ihre muslimischen Brüder und Schwestern."
Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.
Mitarbeit: Murtala Mohammad Kamara (Freetown)