Feministischer Horrorfilm gewinnt Goldene Palme
17. Juli 2021Diese Preisverleihung begann mit einem echten Faux Pas: Der Juryvorsitzende Spike Lee hielt sich vermutlich aus Versehen nicht ans Protokoll und verkündete direkt zu Beginn den Hauptgewinn des Abends.
Über die etwas vorschnelle Ankündigung des US-amerikanischen Regisseurs wurde mit Stil und Humor hinweggesehen, als an diesem Samstagabend die Preise bei den 74. Filmfestspielen im französischen Cannes vergeben wurden, unter ihnen der bedeutendste Filmpreis der Welt: Bei strahlendem Sonnenschein ging die Goldene Palme an die Regisseurin Julia Ducournau. Sie gewann mit ihrem feministischen Horrofilm "Titane" die begehrte Palme d'Or.
Der Film folgt einer jungen Frau und gesuchten Mörderin, verkörpert vom französischen Model Agathe Rouselle, die den Platz eines jungen Mannes einnimmt und sich dessen Vater annähert, gespielt von Vincent Lindon.
"Titane", der dem Genre des "Body Horror" zuzuordnen ist, hatte das Publikum auf dem Festival stark polarisiert. Es ist erst der zweite Spielfilm Ducournaus - und erst das zweite Mal in 74 Jahren, dass die Goldene Palme einer Frau verliehen wird.
Spike Lee verkündete die Gewinnerin mit den Worten: "Jeder braucht im Leben eine zweite Chance. Das hier ist meine. Entschuldigt, dass ich es gerade verpatzt habe." Die amerikanische Schauspielerin Sharon Stone übergab die Trophäe an eine sehr bewegte Julia Ducournau.
In ihrer Dankesrede ging die Regisseurin auch auf den Film ein, mit dem sie 2016 in Cannes debütiert hatte - den kannibalistischen Liebesfilm "Raw" (deutsch: "roh"): "Die Monstrosität, die mein Werk durchzieht, und die einigen Angst macht, ist eine Kraft, die uns erlaubt, Normen zu überwinden." Sie wünsche sich eine Welt, die "inklusiver und fluider" sei.
Insgesamt 24 Regisseurinnen und Regisseure hatten sich um die Goldene Palme beworben. Viele von ihnen wurden tatsächlich mit Auszeichnungen bedacht, denn die Jury vergibt in Cannes noch weitere Preise: am wichtigsten ist nach der Goldene Palme der Grand Prix du Jury, gefolgt vom Prix du Jury.
Letzterer ging gleich an zwei Filme, nämlich den israelischen "Ahed's Knee" und den thailändischen "Memoria"; diese Entscheidung der Jury traf die Veranstalter überraschend: es stand nur eine Trophäe zur Verfügung. Man versprach, die zweite am nächsten Tag nachzuliefern. Der thailändische Regisseur Apichatpong Weerasethakul rief in seiner Dankesrede zu globaler Solidarität in der Corona-Pandemie auf. "Wir teilen global die gleichen Träume, die gleichen Ängste."
Auch der Grand Prix wurde an zwei Filme verliehen: "Compartment No. 6" des finnischen Regisseurs Juho Kuosmanen und "A Hero" des iranischen Regisseurs und zweifachen Oscar-Gewinners Asghar Farhadi. Farhadi betonte, dass er trotz der Unterdrückung und Verfolgung, der sich Künstler im Iran ausgesetzt sehen, stets die Hoffnung habe, mit seinen Filmen die Situation in der Welt und seinem Heimatland verbessern zu können.
Als beste weibliche Darstellerin wurde Renate Reinsve ("The Worst Person in the World") geehrt, die in Freudentränen ausbrach. Dem sichtlich überwältigten Caleb Landry Jones ("Nitram") fehlten zur Dankesrede schlicht die Worte, als er zum besten männlichen Darsteller gekürt wurde.
Die Auszeichnung für das beste Drehbuch ging an die Japaner Ryūsuke Hamaguchi und
Takamasa Oe für ihre Arbeit an "Drive my Car", der auf der gleichnamigen Kurzgeschichte von Haruki Murakami beruht, die in dem Buch "Von Männern, die keine Frauen haben" (2014) erschienen ist.
Der renommierte französische Regisseur Leos Carax wurde als bester seines Faches geehrt. Er hatte mit dem Musicalfilm "Annette" das Festival eröffnet, seinem ersten Film auf Englisch. Er konnte den Preis nicht persönlich entgegennehmen - und ließ ausrichten, er habe ein Problem mit seinen Zähnen
Sowohl auf dem Festival als auch in der Jury waren wieder viele Hollywood-Stars zugegen: unter ihnen die Schauspielerin Rosamund Pike ("Stirb an einem anderen Tag", "Game of Thrones"), der Regisseur Wes Anderson ("The French Dispatch", "The Grand Budapest Hotel") und die Schauspielerin Jodie Foster ("Taxi Driver", "Das Schweigen der Lämmer", "Der Gott des Gemetzels"), die die Goldene Ehrenpalme für ihr Lebenswerk erhielt.
Nachdem das weltweit bedeutendste Filmfestival im letzten Jahr aufgrund der Corona-Pandemie ausfallen musste, stellten die Organisatoren ihr Programm in diesem Jahraus 2300 Einreichungen zusammen, rund 500 mehr als in den vorherigen Jahren. 2020 fand lediglich eine symbolische "Mini"-Ausgabe des Festivals im Oktober statt. Noch zu Beginn dieses Jahres diente der Palais des Festivals, der zentrale Veranstaltungsort in Cannes, als Impfzentrum. Die Veranstalter hatten das Festival zuletzt von Mai auf den Juli verschoben, in der Hoffnung, dass das Infektionsgeschehen bis dahin unter Kontrolle sein möge. Diese Hoffnung hat sich erfüllt.
Vergeben wurde die Goldene Palme durch eine Jury, deren Vorsitz der US-amerikanische Regisseur Spike Lee innehatte, der zuletzt mit seinem Film "BlacKkKlansman" (2018) und "Da 5 Bloods" (2020) von sich reden machte. Er war schon im Jahr 2020 als Präsident der Jury bekanntgegeben worden. Er ist der erste Schwarze, der diese Position ausfüllt. Am letzten Festivaltag gab die Jury ihre Handys ab, begab sich in Klausur - stilecht in einer südfranzösischen Villa - und stimmte über die Gewinner ab.
Nach anhaltender Kritik bestand die Jury dieses Jahr zum ersten Mal aus mehr Frauen als Männern: fünf Frauen und vier Männer entschieden über die Preisvergabe. Unter den Frauen waren die österreichische Regisseurin Jessica Hausner ("Little Joe"), die amerikanische Schauspielerin Maggie Gyllenhall, die französischen Schauspielerin Melanie Laurent, die kanadisch-stämmige Sängerin Mylene Farmer und die französisch-senegalesische Regisseurin Mati Diop. An ihrer Seite standen die Juroren Tahar Rahim, französischer Schauspieler ("Der Prophet"), sein Kollege Song Kang-ho aus dem Publikums- und Preisliebling "Parasite" sowie der brasilianische Filmemacher Kleber Mendonca Filho ("Bacurau").
Die 74. Ausgabe der Filmfestspiele in Cannes endete am Samstag mit der Verkündung der Juryentscheidung.