Gewalt in deutschen Gefängnissen
9. November 2012Dem Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen liegen erschütternde Ereignisprotokolle von bestialischen Gewaltakten unter Häftlingen vor. Da werden Menschen gezwungen, Wasser mit Salz, Shampoo und Zahnpasta zu schlucken, bis sie sich übergeben. Das Erbrochene müssen sie dann essen oder ihren Urin trinken. Andere werden in dunklen Gängen von Mitgefangenen vergewaltigt und zusammengeschlagen. Im Jahr 2006 erhängten Zellengenossen in der Justizvollzugsanstalt Siegburg einen 20-Jährigen. Einfach so. Vor Gericht sagten die Täter emotionslos aus, sie hätten einfach einmal einen Menschen sterben sehen wollen. Befragt wurden zehn Prozent der rund 70.000 Inhaftierten quer durch die Republik.
Gewalt ist an der Tagesordnung
Ein Viertel aller befragten Männer und Frauen hatten nach eigener Auskunft in den vier Wochen vor der Untersuchung irgendeine Form von Gewalt erlebt. Bei den Jugendlichen gaben sogar über die Hälfte an, Opfer aggressiver Handlungen gewesen zu sein. Vollzugsbeamte berichten immer wieder von einer Hackordnung und organisierten Strukturen in den Haftanstalten. Nach Aussagen der Gefängniswärter tritt Gewalt vor allem in Form von Erpressungen in Erscheinung. Meist gehe es um die Verteilung von Drogen. Wer da Bitten nicht erfülle, bekomme es mit sogenannten "Vollstreckern" zu tun. Oft würden mehrere Täter zuschlagen.
"Viele, die heute in den Knast kommen, sind verwahrlost, haben keine sozialen Bindungen und sind überhaupt nicht gemeinschaftsfähig", stellt Hermann-Joseph Bausch fest. Den "Knast", wie eine Justizvollzugsanstalt (JVA) umgangssprachlich bezeichnet wird, kennt Bausch seit über 25 Jahren. Er arbeitet als Gefängnisarzt in den JVAs Werl und Hamm. "Was die Gesellschaft nicht vermag, können wir hinter den Mauern nicht in ein, zwei Jahren einer durchschnittlichen Haftdauer gerade biegen. Das ist zuviel verlangt."
Über die Zustände im Gefängnis hat Joseph-Hermann Bausch, der sich mit Vornamen "Joe" nennt, ein Buch geschrieben - mit dem schlichten Titel: "Knast". Ein Grund für die Gewalt sei, dass über ein Drittel der Gefangenen Haftstrafen wegen Gewaltdelikten absitzt. "Bei der Klientel, die wir betreuen, wird sich Gewalt nicht immer verhindern lassen", gibt Bausch unumwunden zu. Ganz extreme Formen der Demütigungen, Unterwerfungen und Vergewaltigungen seien aber selten. Anton Bachl, Vorsitzender des Bundesverbandes der Strafvollzugsbediensteten (BSBD), bestreitet ebenfalls nicht, dass es ständig zu Attacken und Schikanen unter Häftlingen kommt. Die Studie des Kriminologischen Instituts sieht Bachl dennoch kritisch: "Beleidigungen sollte man bei den Gewalttaten nicht hinzurechnen."
Gegenmaßnahmen gestalten sich schwierig
Immerhin haben Verantwortliche für den Strafvollzug nach Veröffentlichung der Gewaltstudie damit begonnen, Strategien zu entwickeln, um die Situation zu entschärfen. "Vieles hat sich schon deutlich verbessert", meint Joe Bausch, der Gefängnisarzt. Dunkle Ecken in Gemeinschaftsduschen seien entfernt worden. Und bevor neue Häftlinge in eine Gemeinschaftszelle ziehen, gebe es jetzt bereits im Vorfeld Verträglichkeitsanalysen als eine Art Frühwarnsystem, sagt Bausch. Gewalt im Gefängnis würde konsequenter und strenger bestraft als früher. Das Aufsichtspersonal sei besser geschult und auch als verlässlicher Ansprechpartner bei den Gefangenen anerkannt. Die Studie bestätigt das und führt eine steigende Zahl von mutigen Anzeigen gegen Gewalttäter an.
Dennoch bleiben viele Taten unerkannt, weil sie nicht angezeigt werden. Anton Bachl vom Bund der Justizvollzugsbediensteten bemängelt zudem, dass es in der Politik zu wenig Interesse an Veröffentlichungen zu dem Thema gebe: "Die Hälfte der Bundesländer hat an der Studie gar nicht teilgenommen. Da werden Zahlen geheim gehalten."
Seine Hauptkritik bezieht sich auch darauf, dass in Deutschland immer noch zu wenige Häftlinge eine Zelle für sich allein haben, obwohl dies seit vielen Jahren angestrebt sei. Bachl warnt daher auch, Gefängnisse in Deutschland privatisieren zu wollen. In einigen Haftanstalten wie Hünfeld in Hessen ist Personal bereits bei Privatunternehmen angestellt: "Mit angelernten Billigkräften kommt es zu Problemen", meint Bachl. Tatsächlich sind die Landes-Justizminister von Berlin und Baden-Württemberg zurückgerudert und distanzieren sich aus Kostengründen von geplanten Privatisierungen. In Deutschland kommt bisher auf zwei Gefangene eine betreuende Person. Das verschlingt geschätzte drei bis vier Milliarden Euro pro Jahr.
Offener Strafvollzug scheiterte
Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen wollte die Gewalt reduzieren, indem vor allem jugendliche Intensivtäter verstärkt im sogenannten "offenen Strafvollzug" von Pädagogen betreut und auf das Leben nach der Strafe vorbereitet werden. Dazu gab es ein Pilotprojekt mit einer Wohngemeinschaft ohne Zellen, Gitter und Mauern. Das sollte auch die Rückfallquote von fast 60 Prozent senken.
Leider nutzten etliche Häftlinge die Chance zur Flucht. Ähnlich war die Situation in Modellversuchen anderer Bundesländer. Viel Hoffnung, dass sich Gewalt in deutschen Gefängnissen nachhaltig reduzieren lässt, haben weder Joe Bausch noch Anton Bachl. "Es ist aber notwendig, dass wir uns hier weiter engagieren", sagt Joe Bausch. Erweiterte Sportangebote etwa hätten schon viel Druck bei den Gefangenen herausgenommen.