1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Flüchtlinge auf den Kanaren: Krise mit Ansage

20. November 2020

Mitten in der Corona-Krise entwickeln sich die Kanarischen Inseln zum neuen Ziel für Zehntausende Afrikaner auf dem Weg nach Europa. Spaniens Behörden sind überfordert. Jan-Philipp Scholz berichtet von Gran Canaria.

https://p.dw.com/p/3lbKN
Kanarische Inseln: Geflüchtete in Arguineguín, einem Teil von Mogán auf Gran Canaria (Imago Images)
Bild: Elvira Urquijo/Agencia EFE/imago images

Fotojournalisten auf Gran Canaria brauchen in diesen Tagen ein gutes Teleobjektiv, um den ankommenden Migrantinnen und Migranten ein Gesicht geben zu können. Denn Spaniens Behörden haben mehr als 50 Meter von den Zelten des zentralen Auffanglagers Arguineguín entfernt einen gelben Plastikzaun aufgebaut. Mehrere Polizeibusse sind davor geparkt, damit kein Journalist es wagt, sich dem Zeltlager am Hafen des kleinen Küstenstädtchens Mogán auf Gran Canaria zu nähern.

David Perdomo beobachtet die Entwicklung seit Wochen - und er ist zunehmend frustriert. Der Spanier arbeitet für ein regionales Radioprogramm und hat selbst miterlebt, wie sich die Informationspolitik der Behörden gewandelt hat. Je mehr Flüchtlinge auf der Insel ankamen, desto entschiedener hätte die Regierung jede Anfrage der Medien blockiert.

Spanien: Journalisten am Flüchtlingslager in Mogán, Gran Canaria (DW/Jan-Philipp Scholz)
Abgeschirmt von den Medien: Journalisten vor dem Flüchtlingslager in MogánBild: Jan-Philipp Scholz/DW

"Was wir nicht sehen, existiert nicht" - das sei offenbar der Hintergedanke der Verantwortlichen. "Aber wenn wir nicht darüber berichten können, was sich hier am Hafen abspielt, dann wird sich die Lage auch nicht verändern."

Armut, Arbeitslosigkeit, Corona treiben zur Flucht

Mehr als 2300 Migranten sind inzwischen in den provisorisch errichteten Zelten auf Gran Canaria untergebracht. Eigentlich sind sie für nur 400 Personen vorgesehen. Dabei hätten sich sowohl die Inselregierung als auch die Zentralregierung in Madrid besser auf die Ankunft der Schutzsuchenden vorbereiten können. Zwar ist ein Großteil der Flüchtlinge erst in den vergangenen Wochen auf den Inseln angekommen; mehrere Tausend waren es alleine am vergangenen Wochenende. Doch dass die Migration zunimmt, war seit langem erkennbar. Bereits im Sommer kamen sieben Mal mehr Afrikaner auf den Kanarischen Inseln an als im Vorjahreszeitraum.

Kanaren werden zum Migrations-Hotspot

Der Migrationsexperte Matt Herbert von der Globalen Initiative gegen Transnationale Kriminalität sprach schon damals im Interview mit der Deutschen Welle von "einer ersten Vorhut COVID-19-getriebener Migrationsbewegungen". Die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise hätten immer mehr Afrikaner dazu getrieben, ihre Heimat zu verlassen. Gleichzeitig seien aber durch die Pandemie und durch Migrationsabkommen zwischen Europa und Transitländern in Afrika viele klassische Routen blockiert. Daher seien nun alternative Wege nach Europa zunehmend populär - wie die Atlantikroute über die Kanarischen Inseln.

Flüchtlinge schlafen unter freiem Himmel

Doch anstatt sich darauf einzustellen, dass mehr Menschen kommen, ignorierte Spaniens Regierung lange Zeit alle Warnungen. Eine Entscheidung, die sich nun rächt. Im Büro von Chema Santana im Zentrum der Inselhauptstadt Las Palmas herrscht seit Tagen Hochbetrieb. Der Mitarbeiter des Flüchtlingsrates von Gran Canaria durfte zwar auch nicht persönlich in das Auffanglager in Mógan, aber seine Kollegen bekamen vor kurzem Zutritt - und ihre Schilderungen sind schockierend. "Alle Bewohner müssen auf dem Boden schlafen. Einige kommen in den Zelten unter, anderen schlafen einfach unter freien Himmel", so Santana. Von Anfang an habe der Flüchtlingsrat die Zustände im Lager kritisiert. "Aber dass es einmal so dramatisch wird, hätten wir nicht gedacht."

Spanien: Flüchtlinge am Hafen von Mógan, Gran Canaria (DW/Jan-Philipp Scholz)
Provisorisch: Das Auffanglager Aguineguín am Hafen von MogánBild: Jan-Philipp Scholz/DW

Auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat vor kurzem das Camp besuchen können. In ihrem Bericht findet sich eine lange Liste von Verstößen gegen humanitäre Grundsätze. So würden beispielsweise alleinreisende Frauen und unbegleitete Mädchen nicht, wie üblich, getrennt von anderen Flüchtlingsgruppen untergebracht. Besonders besorgt zeigt sich die Organisation auch über fehlende Hygienemaßnahmen während der Pandemie. "Das Chaos dort ist eine echte Bedrohung für die Menschenrechte, die Gesundheit und die Sicherheit der Menschen", so ihr ernüchterndes Fazit.

Spaniens Regierung hat keinen Plan

Inzwischen ist die Regierung dazu übergegangen, ankommende Migranten nach einem ersten Registrierungsverfahren im Auffanglager auf Hotels in der Umgebung zu verteilen. Zahlreiche Unterkünfte stehen wegen ausbleibender Touristen während der Corona-Krise ohnehin seit Monaten leer. Doch das sorgt bereits für neuen Unmut. Viele Einwohner befürchten, dass nun erst recht keine Touristen auf die Insel zurückkehren werden. Mehrfach musste Onalia Bueno, die Bürgermeisterin von Mogán, bei wütenden Protesten vermitteln. Die Ereignisse der vergangenen Wochen haben der engagierten Politikerin sichtlich zugesetzt.

Spanien: Hotel mit Flüchtlingen auf Gran Canaria (DW/Jan-Philipp Scholz)
Ein Dach über dem Kopf - fürs erste: Flüchtlinge in einem Touristenhotel auf Gran CanariaBild: Jan-Philipp Scholz/DW

"So viele Entscheidungsträger und Vertreter internationaler Institutionen haben den Ort in jüngster Zeit besucht. Trotzdem haben wir bis heute keine Ahnung, was eigentlich die Strategie unserer Regierung ist, um die Krise auf den Kanaren zu bewältigen", so Bueno. Wie viele andere Inselpolitiker fordert sie, dass zumindest ein Teil der Migranten endlich auf das spanische Festland gebracht werden sollte. Doch dagegen wehrt sich Spaniens Zentralregierung weiterhin vehement. Viele Migranten kommen aus Ländern wie dem Senegal, Guinea und Marokko. Sie gelten als sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge und haben damit kaum Chancen auf ein Bleiberecht. Diese Menschen würde die Regierung am liebsten direkt von der Insel in ihre Heimatländer zurückschicken. Lange Zeit waren die Rückführungen aufgrund der Pandemie ausgesetzt, vergangene Woche starteten wieder erste Abschiebeflüge nach Mauretanien.

Doch zumindest eine gute Nachricht gibt es an diesem Tag für die Migranten am Hafen von Mogán. Unter die wartenden Journalisten vor dem Auffanglager mischen sich immer mehr Rechtsanwälte von der Insel. In den vergangenen Wochen haben kritische Stimmen das Recht der Neuankömmlinge eingefordert, umfassend über ihre Asylmöglichkeiten und europäische Immigrationsgesetze aufgeklärt zu werden. Auch die Anwälte müssen sich eine Weile vor dem gelben Plastikzaun gedulden. Schließlich aber dürfen sie das Auffanglager betreten.