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Politik

Generation Maidan

7. November 2016

Drei Jahre nach den Protesten auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz arbeitet die Generation Maidan weiter an ihrem Traum: eine fortschrittliche und pro-europäische Ukraine.

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DW Dokumentation Maidan Dreaming Cxema Party
Bild: DW/J. Schylko
DW Dokumentation Maidan Dreaming Nasarij Sowsun
Nasarij Sowsun: Politaktivist bringt Kiews Jugend zum TanzenBild: DW/J. Schylko

„Ich bin heute freier als zuvor“, sagt Nasarij Sowsun, der mit einer jungen Clique aus Künstlern und Politaktivisten zu den ersten Demonstranten auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz gehörte – mit gerade einmal Mitte 20. Die meisten seiner unmittelbaren Mitstreiter aus seinem Freundeskreis hatten eines gemeinsam: Sie studierten an der Kiewer Mohyla-Akademie im Stadtteil Podil, dem historischen Kern von Kiew. Die sogenannte Unterstadt liegt auf gleicher Höhe wie der große Fluss Dnjepr. Die Universität war nach dem Fall des Eisernen Vorhangs mit Hilfe von Auslands-Ukrainern in den USA und West-Europa neu gegründet worden – in Sichtweite zu den Werft- und Hafenanlagen der ukrainischen Hauptstadt. Von Anfang an hatte die Universität das Ziel, eine akademische Elite neuen Denkens am Ende des Sowjet-Kommunismus hervor zu bringen. Mit vielen geisteswissenschaftlichen Fächern: Zahlreiche Kulturwissenschaftler und Künstler hat „die Mohyla“ mittlerweile hervorgebracht. Nur 20 Gehminuten entfernt haben ehemalige Studenten und Dozenten der Akademie das Kiewer Zentrum für visuelle Kultur gegründet, das gerade zu einem der wichtigsten Veranstaltungsorte für freies Denken und Raum für Kontroversen in Kiew wird.

DW Dokumentation Maidan Dreaming Schachspieler
Kiews Stadtteil Podil entwickelt sich zum Labor einer neuen UkraineBild: DW/J. Schylko

Kontroverse Debatten fördern

Nach ihrer Freilassung trat hier auch Nadija Sawtschenko auf, die ukrainische Soldatin und Volksheldin, die seit 2014 in russischer Gefangenschaft war und nur durch internationalen Druck auf den Kreml freigelassen wurde. Seither macht sie in Kiew auch durch nationalistische und wenig demokratische Töne auf sich aufmerksam – eigentlich ein Affront gegenüber dem sonst eher progressiv-linken Publikum des Zentrums. Doch genau diese Reibung wollen die Aktivisten fördern – für den demokratischen Diskurs in der Ukraine.

Ebenfalls im Stadtteil Podil hat sich auf dem Hafengelände das Kunstzentrum Isoljazija eingerichtet, wo auf vier Fabrik-Etagen Ausstellungen, Konzerte und Lesungen stattfinden und auch selbst Kunst entsteht. Junge Künstler können sogar ein „Labor“ nutzen mit allerlei Geräten bis hin zum 3D-Drucker.

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Die Statue der Unabhängigkeit in Kiew: Symbol für die Abkehr von RusslandBild: DW/D. Katkow

Sammelbecken Kiew-Podil

Im Sommer 2016 entstand hier die Ausstellung „Social Contract“, „Gesellschaftsvertrag“, die den Streit um den Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit der Sowjetukraine thematisiert. Eine jener emotional geführten Debatten, mit denen die ukrainische Regierung über Monate hinweg von ihrer katastrophalen Wirtschaftsbilanz ablenken konnte. Erst die Kunst-Aktivisten von Isoljazija ermöglichten eine offene Debatte über den Umgang mit der alten Sowjetkunst und den Denkmälern dieser Zeit, die für sich gesprochen auch Kunstobjekte sind. Diskussionen wie in den 90er Jahren in Ostmitteleuropa. Die Isoljazija-Gruppe hatte sich ursprünglich im ost-ukrainischen Donezk gegründet. Also im Kohle- und Stahlrevier des Donbass, wo seit 2014 Krieg herrscht zwischen der Ukraine und den vom Kreml gesteuerten pro-russischen Separatisten. Die Künstler mussten fliehen – und landeten wiederum auch im Kiewer Stadtteil Podil. Dort betreiben zudem das British Council und das deutsche Goethe-Institut ihre Einrichtungen. Dessen Leiterin Beate Köhler ist überzeugt, dass Kunst und Kultur in der Ukraine seit den Maidan-Protesten noch eine viel größere politische Rolle spielen wird als in den meisten anderen Ländern Ost-Europas. Gerade in den heute unabhängigen Staaten der ehemaligen Sowjetunion sei der Kultursektor der Bereich, wo gesellschaftliche Veränderungen beginnen, sich Menschen herausbilden, die später einmal die Machtfrage stellen.

DW Dokumentation Maidan Dreaming Protest
Maidan-Proteste im Winter 2013/2014: Monatelang protestierten die Ukrainer gegen das Regime des Präsidenten Wiktor Janukowitsch bis zum SturzBild: DW/W. Sentschenko

Techno wird in Kiew politisch

Gut möglich, dass dies für die Zukunft ganz besonders für die Ukraine zu trifft. Auch der Politaktivist Nasarij Sowsun arbeitet für das Zentrum für visuelle Kultur im Kiewer Stadtteil Podil und hat im Sommer 2016 gleichzeitig die Veranstaltungen der Party-Reihe „Cxema“ mit organisiert. Und das versteht der heute 28jährige durchaus politisch: „Das Publikum, das zu den Techno-Raves kommt, entwickelt einmal eine Gesellschaft wie wir sie uns heute schon wünschen“, sagt er und sieht sich und einen kleinen Kreis von Mitstreitern selbstbewusst als Avantgarde einer Entwicklung, die einmal auf dem Kiewer Maidan begann und an deren Ende die Machtfrage gegenüber den derzeit Herrschenden stehen könnte. Zumal die durch die Revolution an die Macht gekommenen Politiker meist die gleichen sind, die man in der Ukraine schon seit 20 Jahren aus dem Fernsehen kennt: Mal als Alibi-Opposition für die im Februar 2014 durch die Maidan-Proteste gestürzten pro-russischen Kräfte um Ex-Präsident Wiktor Janukowitsch, mal als Teil der neuen Führung um den heutigen Präsidenten und Oligarchen Petro Poroschenko, der unter den alten Kräften als Wirtschaftsminister gedient hatte. Eliten also, zu denen man einmal aufzuschauen hatte, formuliert es Nasarij Sowsun: „Das ist seit dem Maidan vorbei.“

Frank Hofmann arbeitete von 2014 bis 2016 als erster ständiger Korrespondent und Studioleiter der Deutschen Welle in der ukrainischen Hauptstadt Kiew und begleitete junge Ukrainer der „Generation Maidan“ während des Sommers 2016. Herausgekommen ist mit der DW-Dokumentation „Maidan Dreaming – Kiews Aufbruch nach Europa“ ein Portrait über die Hauptstadt Kiew und das Lebensgefühl der jungen Generation nach den Maidan-Protesten des Winters 2013/2014.