Gelassen selbstbewusst
4. Oktober 2010Wenn Matteo Brossette morgens endlich aus den Federn kommt, ist es allerhöchste Zeit. Ab unter die Dusche, schnell etwas überziehen, ein Schluck Kaffee - los! Meist ertönt der Schulgong just in dem Moment, wenn er gerade aus der Haustür tritt. "Gut, dass ich nur 20 Meter Luftlinie von der Schule entfernt wohne. Deshalb ist mein Schulweg genauso weit, wie der Weg vom Lehrerzimmer in die Klasse."
Matteo geht ins St. Irmgardis-Gymnasium in Köln. Die Schule liegt im Stadtteil Bayenthal im Kölner Süden. Hier wohnt man gerne, was sich vorwiegend die Mittelschicht leisten kann.
Für die Schülerinnen und Schüler ist das Geschichte
Petra Linßen gibt einen Grundkurs in Geschichte. Thema ist heute die jüngere deutsche Vergangenheit. Sie fragt, wer schon einmal an der Berliner Mauer war. "Das sind schon mal die Hälfte oder zwei Drittel", stellt sie fest. "Die Mauer in West-Berlin sah ja ganz bunt aus - könnt Ihr Euch vorstellen, wie die Mauer im Osten aussah?" Ein Schüler antwortet: "Da war gar nichts." Nein, die konnte dort auch gar nicht bemalt sein - warum nicht, will sie wissen. "Bis zur Mauer kam man gar nicht", sagt eine Schülerin. Stimmt, denn da waren der Todesstreifen und die Wachtürme.
DDR, Mauerfall, Wiedervereinigung - das kennen die 17 und 18 Jahre jungen Menschen vor allem aus Filmen. Real ist für sie die Einheit: "Ich glaube nicht, dass da noch eine Mauer in den Köpfen ist. Ich bin auch damit aufgewachsen, dass es eins ist." Die anderen nicken zustimmend.
Kaum noch Unterschiede
Thomas Gensicke ist Soziologe beim Institut TNS Infratest Sozialforschung in München. Der Jugendforscher sagt, 20 Jahre nach der Einheit seien Jugendliche Ost und West eine homogene Gruppe, was daran liege, dass die Rahmenbedingungen für diese Phase des Heranwachsens nahezu identisch seien. Bei genauerem Hinsehen gibt es allerdings doch einen Trend: Finanziell sind die Jugendlichen in Westdeutschland besser gestellt. Somit schauen auch die Ost-Jugendlichen weniger optimistisch in die Zukunft als im Westen, haben eher Existenzängste. Das findet Thomas Gensicke überhaupt nicht erstaunlich: "Denn wir haben im Osten eine doppelt so hohe Jugendarbeitslosigkeit."
Materielle Sorgen braucht sich Matteo nicht zu machen, denn seiner Familie geht es gut. Matteo will unbedingt ein Einser-Abitur, Architektur studieren und später im Ausland leben - in seiner Traumstadt Madrid.
Alles dreht sich um Musik
Am Nachmittag kommt Josephine, eine Freundin aus einem Vorort Kölns, vorbei. Die beiden gehen in die umgebaute Garage, Matteos Musiklabor mit Mischpult, Plattenspielern und Laptop. Matteo legt in Kölner Clubs auf und produziert auch selbst Musik - eine Mischung aus Minimal-Techno und House. Jetzt spielt er Josephine einige Stücke vor.
In Matteos Leben kreist alles um Musik. Er interessiert sich zwar für Politik, aber politisch engagiert ist er nicht. Umso mehr ist ihm kürzlich auf einem Elektro-Punk-Konzert bei Leipzig aufgefallen, dass die Ost-Jugendlichen deutlich politischer sind: "Es gab da sehr viele mit 'Raven gegen Rechts'-T-Shirts und 'Make love, not war'. Bei uns machen sie das auf einer Demonstration. Im Osten laufen sie mit ihren politischen T-Shirts immer 'rum", meint Matteo. Offenbar trage man seine politische Meinung im Osten deutlicher in die Öffentlichkeit.
Eine ähnliche Erfahrung hat auch Josephine auch gemacht – wenn auch unter anderen politischen Vorzeichen. Die Jugendlichen, die sie in einem Dörfchen auf Usedom in Mecklenburg-Vorpommern beobachtet hat, haben sie schon ein wenig schockiert. "Als ich auf Usedom war, war ich in einem ganz kleinen Dorf, in dem alle Böhze Onkelz gehört haben." Die Band, die bestreitet, rechtsextremistisch zu sein, ist in der rechten Szene populär. Josephine sagt: "Das fand ich krass. Die liefen da auch alle in T-Shirts von rechtsextremen Bands herum."
Die Jugend West ist näher am "System Bundesrepublik"
Rechtsextreme sind auch im Osten in der Minderheit, sagt Jugendforscher Gensicke. Er sieht indes den Trend, dass Ost-Jugendliche Politik, Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland eher in Frage stellen als ihre westlichen Altersgenossen. Die Ursache dafür sei, dass Eltern, Schule und Medien in Westdeutschland in viel stärkerem Maße eine selbstverständliche, systembejahende Haltung vermitteln als im Osten.
Josephine kann es sich dennoch vorstellen, in den Osten zu ziehen - allerdings nur in eine Großstadt. Die wenigsten West-Jugendlichen sind dem Osten gegenüber so aufgeschlossen wie Josephine. Die meisten glauben, der Westen Deutschlands bietet die besseren Perspektiven für Ausbildung und Job. Womit sie nicht alleine stehen: Denn selbst die Ost-Jugendlichen sehen ihre Zukunft auch eher im Westen: Dort, wo das wirtschaftliche System der Bundesrepublik ihrer Meinung nach besser funktioniert.