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"Wir suchen gemeinsam Lösungen"

Andreas Noll21. Januar 2013

Der französische Europaminister Cazeneuve und der deutsche Staatsminister Link wollen eine gelebte Beziehung der Nachbarländer, keine inszenierte. Das erklären sie im Doppel-Interview mit der DW.

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Bernard Cazeneuve und Michael Georg vor den Flaggen Frankreichs und Deutschlands (Foto: Wolf von Dewitz/dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Deutsche Welle: Herr Cazeneuve, Sie sind genauso wie Ihr deutscher Amtskollege im Jahr 1963 geboren, als der Elysée-Vertrags unterschrieben wurde. Welche persönlichen Erinnerungen haben Sie an 50 Jahre deutsch-französische Aussöhnung?

Bernard Cazeneuve: Da wir beide in dem Jahr der Unterzeichnung des Vertrags geboren wurden, versteht sich, dass wir uns an eben diese Unterzeichnung nicht erinnern können. Aufgrund unserer Laufbahn haben wir jedoch beide die deutsch-französischen Beziehungen in historischer, geradezu mythischer Hinsicht erfahren und erleben können. Ich persönlich kann mich an die Bilder in den Geschichts-Lehrbüchern gut erinnern, die diesen Vertrag als Grundlage der deutsch-französischen Beziehungen und als Grundlage für den Aufbau Europas darstellten. Die beiden historischen Hauptakteure der Unterzeichnung, Bundeskanzler Adenauer und Präsident de Gaulle, haben durch ihr Charisma diesem Vertrag ihren Stempel aufgedrückt.

Herr Link, können Sie sich noch an ihren ersten Besuch in Frankreich erinnern?

Michael Georg Link: An den ersten Besuch kann ich mich nicht erinnern. Das war mit den Eltern, die viel mit dem Auto durch Europa gefahren sind und natürlich auch in Frankreich Urlaub gemacht haben. Aber erinnern kann ich mich sehr wohl dann an die Besuche ab dem Alter von fünf, sechs oder sieben Jahren. Besonders geprägt haben mich einige Sommer, die ich in Béziers verbracht habe - im Rahmen unserer Schul- und Städtepartnerschaft mit meiner Heimatstadt Heilbronn. Die Féria in Béziers im August ist etwas, was man nie vergisst und was ich bis heute wunderschön finde.

Welche Bedeutung hat für Sie die Sprache des Nachbarn?

Cazeneuve: Die deutsche Sprache habe ich vor 30 Jahren sehr oft gesprochen. Vor 25 Jahren verschwand sie aus meinem Leben. Seit sechs Monaten spreche ich sie wieder. Wie viele junge Franzosen lernte ich diese Sprache in der Schule. In den 1970er Jahren war sie an französischen Schulen sehr verbreitet. Ich habe sie mit großer Freude gelernt, zumal ich damals gerne musizierte und die deutsche Musik entdeckte. Ich kann mich erinnern, dass ich als Jugendlicher zusammen mit einem kleinen Kammerorchester Bachs Kantaten oder auch Melodien von Brahms und Mendelssohn gesungen habe. Durch Schuberts Lieder lernte ich nicht nur deutsche Musik kennen, sondern auch Goethes wunderbare Texte, die Schubert vertont hatte, darunter der Erlkönig und andere sehr schöne Texte. Im Endeffekt habe ich als Jugendlicher viel mit deutscher Sprache, Musik und Kunst zu tun gehabt. Nun finde ich die deutsche Sprache in einem neuen Kontext wieder: die Regierungstätigkeit und die Politik. Für mich bleiben aber vor allem Kultur, Musik und große Dichter, die meine Jugend geprägt haben. Das ist, meine ich, eine gute Grundlage für eine starke Freundschaft mit Deutschland. Deutschland ist ein großes Kulturland. Rimbaud, Goethe, Beaudelaire, Schubert haben den Weg geebnet zu einer ewigen deutsch-französischen Verständigung. Bevor die Politiker ins Spiel kamen, bestand schon diese Seele, die Sensibilität, diese Kraft.

Bernard Cazeneuve und Michael Georg im Gespräch (Foto: dpa)
Fast täglich im Kontakt: Staatsminister Link (li.) und Europaminister CazeneuveBild: picture-alliance/dpa

Welche Mentalitätsunterschiede zwischen beiden Nationen sind aus Ihrer Sicht besonders augenfällig?

Link: Die Unterschiede selbst innerhalb Deutschlands und innerhalb Frankreichs sind groß, aber natürlich gibt es auch Unterschiede zwischen Deutschen und Franzosen. Und ich glaube, dass Deutsche manchmal ein bisschen zu wenig pragmatisch sind, sondern sehr nach ihrem Plan vorgehen. Während Franzosen sich sehr viel realistischer anpassen können. Insofern können wir auch sehr viel voneinander lernen. Wenn man einen Plan hat, ist das schön, aber das Leben folgt keinem Plan. Und man muss immer in der Lage sein, seine Pläne auch mal zu ändern.

Zu den schönsten Symbolen der deutsch-französischen Zusammenarbeit gehört die deutsch-französische Brigade. Wäre der erste große gemeinsame Einsatz der Brigade nicht ein passendes Geschenk zum Elysée-Jubiläum?

Cazeneuve: In erster Linie sind die Kanzlerin und der französische Staatspräsident dafür zuständig, darum möchte ich nicht vorgreifen. Alle Themen, die von der Stärke unserer Bindung zeugen, insbesondere in der Außen- und Verteidigungspolitik, haben eine wichtige Symbolwirkung. Im Rahmen des Weimarer Dreiecks machen wir uns zusammen mit Deutschland und Polen über solche Themen Gedanken.

Was ist eigentlich aus der Initiative geworden, dass Minister des jeweils anderen Landes an Kabinettssitzungen teilnehmen?

Link: Manchmal geschieht das, es ist aber offen gesagt in der Praxis sehr schwierig. Denn die Parlamente tagen oft gleichzeitig. Wir haben mittwochs die Fragestunden im Parlament. Das französische Kabinett tagt am Mittwoch, wir tagen am Mittwoch. Wir müssen zunächst einmal unseren Bürgern - vertreten durch die Parlamente - Rede und Antwort stehen. Deshalb haben wir andere Wege gesucht, wie wir uns treffen. Deshalb treffen wir uns bei den EU-Ministerräten regelmäßig am Rande, aber dann punktuell mit der gemeinsamen Kabinettssitzung mindestens einmal im Jahr. Der Elysée-Vertrag und unsere Agenda schreiben eigentlich zweimal im Jahr vor - da müssen wir noch dran arbeiten. Eigentlich müssten wir das zweimal regelmäßig wieder schaffen.

Am 22. Januar wird in Berlin die deutsch-französische Freundschaft groß gefeiert. Das gesamte französische Kabinett und das Parlament kommen in die deutsche Hauptstadt. Welche Botschaft geht von diesem Termin aus?

Cazeneuve: Frankreich und Deutschland haben gemeinsam viele Aufgaben vor sich. Wie werden zusammen das 50. Jubiläum des Élysée-Vertrags feierlich begehen. Zusammen werden wir der starken Botschaft von Kanzler Adenauer und General de Gaulle gedenken. Parallel dazu werden wir uns über ganz konkrete Fragen Gedanken machen: Jugendpolitik, grenzenübergreifende Politik, Berufsausbildung. Eine Vielfalt von Themen steht auf der Tagesordnung, die in ein gemeinsames Projekt für unsere Zukunft einfließen werden. Unsere Beziehung spielt sich jeden Tag ab: Wir sprechen oft miteinander über europäische und nationale Fragen. Wir versuchen, einen gemeinsamen Weg zu finden. Wir brauchen diese Beziehung nicht mehr zu inszenieren, wir müssen sie mit Leben füllen, verdichten, vertiefen. Michael und ich treffen uns ständig, und wenn wir nicht gerade zusammensitzen, vermissen wir einander. Wir telefonieren, um über gemeinsame Themen zu diskutieren. Das macht heute die deutsch-französische Beziehung aus. Wir suchen gemeinsame Lösungen in der Krise, damit Europa eine Lösung darstellt, nicht ein Problem.

Wie geht es nach dem Festakt weiter?

Link: Wir haben uns vorgenommen, dass wir nach dem 22. Januar die konkreten Arbeitsaufträge, die wir bekommen werden in der Regierungserklärung, schnell umsetzen wollen. Wir werden loslegen, zum Beispiel mit einer gemeinsamen Konferenz in Saarbrücken, um grenzübergreifende Zusammenarbeit zu verbessern. Wir sehen ein großes Potential. Wir wollen in den Bereichen Energie, Jugend und Bildung und ganz konkret der grenzübergreifenden Zusammenarbeit noch mehr machen. Deshalb wollen wir an diesem ganz konkreten Dossier im Frühjahr intensiv weiterarbeiten, um bald Ergebnisse zu haben.

Bernard Cazeneuve (Foto: dpa)
Deutsche Musik und Literatur faszinieren ihn: Bernard CazeneuveBild: picture-alliance/dpa

Wo sehen Sie Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich, nehmen wir zum Beispiel die Nutzung der Atomenergie?

Link: Auf deutscher Seite haben wir uns entschieden, aus der Produktion von Atomenergie auszusteigen. Wir haben aber vollen Respekt für alle Staaten, die das für sich anders entscheiden oder anders entschieden haben.

Cazeneuve: Die Atomkraft ist eine Stärke für die französische Energiepolitik. Dadurch sind wir im Bereich Energie wettbewerbsfähig. Die CO2-Bilanz wird dadurch positiv beeinflusst. Gleichzeitig haben wir uns für einen Energiewandel entschieden. Frankreich soll seinen Energiemix vielfältiger gestalten, mehr in die erneuerbaren Energieträger investieren. Jedoch verzichten wir nicht auf unsere Trümpfe. Durch den Energiewandel, den unser Präsident befürwortet, bekommen wir die Gelegenheit, mit Deutschland gemeinsam an vielen Themen zu arbeiten: erneuerbare Energien, Verbesserung der Wärmebilanz von Gebäuden. Das tun wir, obwohl wir nicht den gleichen Energiemix haben.

Wie sollte man in Deutschland und Frankreich mit politischem Extremismus umgehen, gibt es da unterschiedliche Ansätze?

Link: Politischer Extremismus ist leider in vielen Staaten der Europäischen Union immer noch ein Problem. Die Suche nach einfachen Antworten ist überall ein Problem. Wir haben in Deutschland zum Glück keine extremistische Partei im Parlament. Wir haben in einigen Landtagen extremistische Parteien. Das ist ein Gefahrensignal. Im Bund haben wir es immer geschafft, Extremisten nicht in die Parlamente kommen zu lassen. Es ist die Gesamtaufgabe aller Demokraten, daran zu arbeiten, dass das auch so bleibt. Deshalb müssen wir in der Krise, in der wir sind, klare Antworten geben. Als auf Zeit gewählte Politiker müssen wir Rechenschaft ablegen gegenüber den Wählerinnen und Wähler, damit die Bürger verstehen: Es hat einen Sinn, sich in der Politik zu engagieren. Die Bürger sollen verstehen, dass die Suche nach einfachen Antworten, die die Extremisten geben, gefährlich ist und nicht weiterführt.

Cazeneuve: Ich komme aus der Normandie, wo Tocqueville viel geschrieben hat und von den Normannen sagte, dass sie heftig maßvoll sind. Ich mag keinen politischen Extremismus, gar nicht. Die Politik, wie ich finde, übt sich besser in der Mäßigung, in der Balance, in der Suche nach dem Gleichgewicht. Politischer Extremismus ist eine Gefahr für alle Länder der Welt. Wenn sich politische Bewegungen mehr von ihrem Instinkt als vom Geiste nähren, lauert Gefahr. Politische Extremisten greifen meistens negative Instinkte hervor. Man muss sich also vor Extremismus, einfachen Ideen, falschen Selbstverständlichkeiten bewahren. Politische Parteien müssen das Bewusstsein schärfen, im Sinne des Fortschritts handeln. Sonst lauert Gefahr. François Mitterrand sagte: "Nationalismus ist Krieg." Wir müssen die Werte Europas, die der Europarat verankert hat, wie einen Schatz schützen.

Bernard Cazeneuve (49) ist seit Mai 2012 Minister für Europa-Angelegenheiten im französischen Kabinett. Der sozialistische Politiker ist seit 2007 Mitglied der französischen Nationalversammlung, dem Parlament in Paris. Sein Gegenüber in der deutschen Regierung ist Michael Georg Link (49). Der liberale Politiker ist seit 2012 Staatsminister im Auswärtigen Amt und Beauftragter für die deutsch-französischen Beziehungen.