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Politik

Geheimdienstmythen in Europa

Christopher Nehring
8. Juni 2019

Zahlreiche Mythen ranken sich um die Geheimdienste. Nicht immer sind sie unwahr. Aber an diesen Mythen zu rütteln, gehört zu den Grundsätzen eines demokratischen Umgangs mit den Geheimdiensten, meint Christopher Nehring.

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Christopher Nehring, Historiker
Christopher Nehring forscht über die GeheimdiensteBild: Susanne Schleyer/autorenarchiv.de

Die Welt, so hat es manchmal den Anschein, ist heute aus den Fugen geraten - und Geheimdienste stecken immer und überall mittendrin. In England ein Giftanschlag, in Montenegro ein Putschversuch, in Deutschland Cyberattacken auf das Auswärtige Amt, Einflussversuche auf Wahlen in den USA und Frankreich oder ehemalige Agenten der kommunistischen Staatssicherheit an der Spitze von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Tschechien, Russland und auf dem Balkan.

Der neueste Skandal in dieser unrühmlichen Liste: das "Strache-Video", das den österreichischen Vizekanzler Hans-Christian Strache bei illegalen Absprachen und Verhandlungen mit einer angeblichen russischen Oligarchen-Nichte zeigt. Auch dahinter, so mehrten sich Stimmen, könne nur ein Geheimdienst stecken - denn wer sonst hätte die Möglichkeiten dazu?

Doch Vieles, was Geheimdienste gemein umgibt oder zugeschrieben wird, erweist sich bei einem genauen Blick als Mythos. Um ein Missverständnis vorwegzunehmen: Es gilt weder, Geheimdienste und ihre Arbeit zu verharmlosen, noch sie zu verteufeln. Wohl kaum eine staatliche Institution ist zugleich so überschätzt und unterschätzt. Die große Geheimniskrämerei, die mancherorts immer noch fast kultisch um Geheimdienste betrieben wird, hat zu einem Meer an Mythen geführt. Und überall dort, wo, wie im ehemaligen sozialistischen Teil Ost- und Südosteuropas, Geheimdienste zur staatlichen Repression gedient haben, sind diese Mythen besonders ausgeprägt und hartnäckig.

Ein Mann mit einem Abhörgerät
Vieles, was Geheimdiensten zugeschrieben wird, erweist sich bei einem genauen Blick als MythosBild: picture-alliance/dpa/ZB

Nicht immer sind Mythen unwahr. Mythen füllen das Vakuum, das das fehlende öffentliche und gesicherte Wissen über diese ganz besondere staatliche Institution hervorbringt. Ihre Entmystifizierung ist daher ein Beitrag zur demokratischen Kontrolle. Denn eines ist klar: Geheimdienste gehören auch in einem demokratischen Europa zum Alltag. An ihren Mythen zu rütteln ist eine Grundvoraussetzung für einen souveränen und demokratisch gewachsenen Umgang mit Geheimdiensten – überall in Europa.

Mythos Nr. 1 – Nur Staaten haben Geheimdienste

Verfolgt man die Debatten um das "Strache-Video" in Österreich, so muss das schnelle Urteil, das einige Experten fällten, stutzig machen: Die ganze "Operation" könne nur ein Geheimdienst durchgeführt haben, da nur er über entsprechende Mittel verfüge. Das jedoch ist ein Mythos!

Überall in Europa, im alten Westen wie im neuen Osten, sprießen seit Jahrzehnten private Nachrichtendienste aus dem Boden. "Business Intelligence" oder einfach Sicherheitsfirmen genannt, bieten sie "Informationsbeschaffung" jeglicher Art für zahlende Kundschaft an. Darunter befinden sich viele Firmen, die entweder von ehemaligen Nachrichtendienstmitarbeitern gegründet wurden oder solche mit großer Vorliebe anstellen.

Im gesamten Ostblock dienten private Sicherheitsfirmen nach dem Untergang des Kommunismus als Sammel- und Auffangbecken für ehemalige Geheimdienstmitarbeiter.

Im Westen machte etwa Orbis Business Intelligence, die englische Firma des ehemaligen MI6-Mitarbeiters Christopher Steele, von sich reden, da von hier offenbar die Informationen über das sogenannte "Trump-Dossier" kamen. Hier waren nachrichtendienstliche Vollprofis am Werk, die als Privatfirma zudem den Vorteil bieten, dass Verbindungen zu politischen oder ebenfalls privaten Auftraggebern nur schwer nachweisbar sind.

Mythos Nr. 2 – Fake News sind neu

Fake News als Begriff für absichtlich verbreitete Unwahrheiten, die eine bestimmte Wirkung entfalten sollen, sind ein Modebegriff der letzten fünf Jahre. Rasant verbreitete sich der Begriff überall auf der Welt. Eigentlich bezeichnete er von staatlicher Stelle gezielt verbreitete Desinformation zur Einflussnahme. Mittlerweile mutiert er allerdings zum politischen Kampfbegriff zwischen Staaten, Parteien und Meinungen.

Eng ist dabei der Zusammenhang mit dem Internet und der Digitalisierung, die Fake News in Form von Tweets, Videos, Posts und Kurznachrichten ein besonderes Gesicht verliehen. Doch es ist ein Mythos, dass Fake News eine neue Erscheinung des digitalen Zeitalters sind!

Mann zieht seinen Hut tief ins Gesicht
Wohl größte Geheimdienstmythos: Geheimdienste taugen zur großen (Welt-)VerschwörungBild: imago/Steinach

Desinformation im staatlichen Auftrag, ausgeführt von Geheimdiensten, ist ein alter Hut. Besonders die sozialistischen Geheimdienste Osteuropas unterhielten jahrzehntelang eigene Abteilungen, deren einzige Aufgabe die Fabrikation und Verteilung von Desinformation war. Und eigentlich hörte das nie auf, es verschwand nach 1990 nur unter die Oberfläche des politischen Systems, um heute mit aller Macht zurück an die Tagesordnung zu drängen.

Mythos Nr. 3 – Die EU hat (k)einen Nachrichtendienst

Die Europäische Union ist ein kompliziertes politisches Gebilde. Außen- und Sicherheitspolitik ist eine ureigene Domäne der Mitgliedstaaten und nicht der Gemeinschaft. So wollen es die Lissaboner Verträge. Damit ist auch die Frage nach einem EU-Geheimdienst vom Tisch.

Und doch gibt es eine Stelle, die in Brüssel nachrichtendienstliche Informationen aus den Mitgliedsstaaten erhält, mit öffentlichen Informationen anreichert, eigene Analysen abgibt und diese an EU-Stellen verteilt: INCTEN - EU Intelligence Analysis Centre, angesiedelt beim Europäischen Auswärtigen Dienst.

Der Unterschied zu einem "richtigen" Geheimdienst: INCTEN darf keine eigenen Informationen mit geheimen, nachrichtendienstlichen Mitteln (also Quellen, Abhören o.ä.) beschaffen, sondern ist auf offene Informationen und Informationen aus den Mitgliedsstaaten angewiesen.

Mythos Nr. 4 – Geheimdienste sind unkontrolliert

Bei jedem neuen Geheimdienstskandal schallt es durch die Presse: Geheimdienste werden nicht kontrolliert, sind unkontrollierbar und ohnehin ein Fremdkörper in der Demokratie! Besonders dort, wo Gesellschaften historische Erfahrungen mit Geheimdiensten gemacht haben, die von ihrer politischen Führung als politische Geheimpolizei zur Durchsetzung von Diktaturen eingesetzt wurden, ist dieses Misstrauen weit verbreitet (und verständlich).

In Deutschland gilt dies gleich für zwei Diktaturen. Vor allem gilt dies aber in den postkommunistischen europäischen Staaten. Der Reformprozess dort ist auch 30 Jahre nach dem Untergang des Kommunismus nicht abgeschlossen. Doch: Auch in Westeuropa dauerte es nach dem Zweiten Weltkrieg mitunter bis zu 50 Jahre, bis sich Formen der demokratischen Kontrolle entwickelten. Parlamentarische Kontrollgremien waren keine Selbstverständlichkeit.

Der Binärcode auf einem Computerbildschirm
Desinformation im staatlichen Auftrag, ausgeführt von Geheimdiensten, ist ein alter HutBild: picture-alliance/dpa/O. Berg

Und ihre ständige Weiterentwicklung und Anpassung an neue Herausforderungen ist ein wichtiger Bestandteil der Demokratie. Die Kontrolle von Geheimdiensten, durch Dienstaufsichtsbehörden, Parlamentarische Gremien, Gerichte, Datenschutzbeauftragte, Gerichte, Medien oder Wissenschaft ist nicht perfekt. Aber sie existiert!

Mythos Nr. 5 – Geheimdienste taugen zur Weltverschwörung

Zu guter Letzt der wohl größte Geheimdienstmythos: Geheimdienste taugen zur großen (Welt-)Verschwörung. Besonders in den postkommunistischen Staaten, in denen Geheimdienste hermetisch abgeschirmt waren und ein Klima der Angst verbreiteten, das ihre realen Möglichkeiten weit überstieg, ist der Mythos allmächtiger Geheimdienste immer noch weit verbreitet. Russland steht dabei besonders oft im Zentrum.

Zwar hat auch dieser Mythos einen realen Hintergrund, nämlich tatsächliche Verwicklungen von Geheimdiensten in Umstürze, Attentate, Putschversuche und andere "verdeckte Aktionen". Von Afghanistan bis Panama waren Geheimdienste - im Auftrag ihrer Regierung - in unredliche Machenschaften verstrickt.

Doch das Weltgeschehen kontrollieren sie nur in den halsbrecherischen Ideen von Verschwörungstheoretikern. Geheimdienste sind Behörden, haben beschränkte personelle und finanzielle Ressourcen, sind abhängig von ihren Regierungen und können nie wirklich alle ihre Geheimnisse auch geheim halten. Zumal im digitalen Zeitalter der Kreis der Mitwisser enorm ansteigt. Wo Geheimdienste sich tatsächlich verschwören, sind sie Instrumente und Mittel. Und nicht einmal unbedingt die besten!
 

Christopher Nehring, geb. 1984, ist wissenschaftlicher Leiter im Deutschen Spionagemuseum Berlin. Er hat Osteuropäische und Neuere Geschichte in Heidelberg und St. Petersburg studiert und 2016 zu einem Thema der Geheimdienstgeschichte promoviert. Sein neuestes Bucht ist "Die 77 grössten Spionage-Mythen", erschienen bei Heyne, München, 2019.