Gegen Schleier und Scharia
24. September 2010Nein, das Kopftuch ist kein schlichtes Stück Stoff, es ist kein bloßes Kleidungsstück und schon gar nicht ein hipper Lifestyle-Artikel, mit dem sich stark geschminkte junge Mädchen bunt und sexy aufbrezeln. Das Kopftuch ist "Flagge und Symbol der Islamisten" und hat "in den 80er Jahren seinen Kreuzzug bis in das Herz Europas angetreten", schreibt die Journalistin Alice Schwarzer als Herausgeberin des neuen Buches "Die große Verschleierung".
Darum fordert sie nach dem inzwischen gesetzlich festgeschriebenen Kopftuchverbot für Lehrerinnen an deutschen Schulen jetzt einen zweiten Schritt: ein Kopftuchverbot für Schülerinnen. "Nur dieser konsequente Akt", so Schwarzer, "gäbe den kleinen Mädchen aus orthodoxen bis fundamentalistischen Familien endlich die Chance, sich wenigstens innerhalb der Schule frei und gleich zu bewegen".
Schleier: Jetzt erst recht?
Es wird viele Leserinnen und Leser geben, die erst einmal allergisch auf ihre Verbotsforderung reagieren. Denn ein Verbot tangiert Freiheiten und Rechte, die in Deutschland selbstverständlich sein sollten: das Recht auf individuelle Selbstbestimmung, die Freiheit der Religion. Warum also sollte es Schülerinnen nicht freigestellt sein, mit Kopftuch im Unterricht zu erscheinen? Und würden nicht durch ein Verbot gerade diejenigen noch animiert, die ihr Kopftuch sehr selbstbewusst als Signal einer islamischen Identität tragen – nach dem Motto: Wenn es verboten ist, dann erst recht?
Alice Schwarzer und ihre Co-Autorinnen bringen in mehreren Artikeln den zentralen Konflikt auf den Punkt, der zwischen dem Recht auf Unterschied und dem Recht auf Gleichheit besteht: "Zum Tragen des Kopftuchs, das die Mädchen als die 'Anderen' sozial ausgrenzt und körperlich einengt, gehört eine ganze Palette von Sonderbehandlungen, die diese Eltern für ihre Kinder in der Schule verlangen. Immer geht es dabei um die Trennung der Geschlechter, oder, so diese in deutschen Schulen verweigert wird, um die Befreiung von der Teilnahme der Mädchen am Schwimmunterricht und Sportunterricht, an den Schulausflügen und am Sexualkundeunterricht".
Keine Ehre ohne Kopftuch?
Doch wo das Recht auf Unterschied durchgesetzt wird, ist zugleich das Grundrecht auf Gleichheit verletzt, das Recht auf Chancengleichheit ausgehebelt. Die Islamwissenschaftlerin Rita Breuer hat sich auf deutschen Schulhöfen des Jahres 2009 umgehört und schildert in ihrem Artikel, welchen Druck Kopftuch tragende Mädchen häufig auf ihre Mitschülerinnen ausüben – mit Sprüchen wie: "Willst du aussehen wie eine Deutsche?" oder: "Das Kopftuch ist unsere Ehre – hast du keine?"
Mit Argumenten unterfüttert werden solche Schulhof-Parolen durch Korankommentare, durch Fatwas – religiöse Gutachten –, durch Predigten oder im Internet. Überall dort, so Breuer, "wird mit großer Leidenschaft die islamische Kleidung der Frau als Inbegriff ihres Schutzes und ihrer Würde propagiert, die Alternativen des Westens hingegen gelten als ruchlos und schändlich. […] Von der uns gerne suggerierten 'freien Entscheidung' von Mädchen und Frauen für oder gegen das Kopftuchtragen keine Spur". Die Fundamentalisten – so die Diagnose des Buches - sind auch in Deutschland auf dem Vormarsch. Und das wahre Problem, so Alice Schwarzer sogar, sei die "systematische Unterwanderung unseres Bildungswesens und unseres Rechtssystems".
Falscher Dialog, falsche Toleranz?
Bei so viel Alarmstimmung überrascht es fast schon, ein paar nüchterne Fakten aus dem Alltag zu lesen, die die Journalistin aus einer neueren Studie über Musliminnen in Deutschland zitiert: Nur eine kleine Minderheit von ihnen trägt demnach überhaupt ein Kopftuch. Selbst von denjenigen, die sich als "sehr gläubig" bezeichnen, bedeckt nur etwa die Hälfte ihr Haar. Was im Umkehrschluss ja wohl bedeutet: Die weit überwiegende Mehrheit lebt auf Distanz zur fundamentalistischen Kleiderordnung – und damit auch zu islamistischen Organisationen, die das Kopftuch diktieren.
Mit dieser großen, lange aber schweigenden Mehrheit der Musliminnen will Alice Schwarzer nun ins Gespräch kommen und ihnen den Rücken stärken. Bisher, so Schwarzer, wurde in Deutschland der "falsche Dialog" und "falsche Toleranz" praktiziert. Gesprächspartner seien in erster Linie die Vertreter fundamentalistischer Organisationen gewesen – und deren Forderungen seien meist erfüllt worden aus Angst vor Rassismus-Vorwürfen.
Muslimische Mitstreiterinnen
So glaubwürdige wie wortmächtige Mitstreiterinnen für den Kampf gegen Kopftuch, Scharia und Frauenunterdrückung hat Alice Schwarzer in muslimischen Autorinnen gefunden. Etwa Djemila Benhabib, die in Algerien aufwuchs, erst ins Pariser Exil und später nach Kanada ging. Die Autorin und Journalistin arbeitet inzwischen für die kanadische Regierung und beschreibt in Schwarzers Buch, wie sie selbst unter Einsatz ihres Lebens wagte, trotz Bedrohung durch die bewaffnete islamistische GIA in Algerien unverschleiert auf die Straße zu gehen.
Ihre Konsequenz ist an Klarheit nicht zu übertreffen: "Wenn die Religion Staat und Gesellschaft beherrscht, bewegen wir uns nicht mehr im Raum des Möglichen, wir können nichts mehr in Frage stellen, wir beziehen uns nicht mehr auf Vernunft und Rationalität, die der Aufklärung, so wichtig waren. […] nur die Trennung von Staat und Religion macht es möglich, einen gemeinsamen Raum zu schaffen, sagen wir, einen staatsbürgerlichen Bezugsrahmen, fern von allem Glauben und allem Unglauben, um die Zivilgesellschaft gestalten zu können".
Staat und Religion
Davon könnte Deutschland lernen - nicht nur im Umgang mit Muslimen. Wenn man sich dazu durchringen sollte, ein Kopftuchverbot an Schulen durchzusetzen, wird es viel Diskussionsstoff auch über Symbole anderer Religionen geben. Ein Urteil gegen christliche Kreuze in deutschen Schulen hat es schon gegeben, doch in der Praxis sind die Auswirkungen bislang marginal. Von einem laizistischen Staat, in dem Religion tatsächlich Privatsache ist, sind wir weit entfernt.
Autorin: Aya Bach
Redaktion: Gabriela Schaaf
Alice Schwarzer (Hg.): "Die große Verschleierung. Für Integration, gegen Islamismus". Verlag Kiepenheuer & Witsch. 272 Seiten. 9,95 Euro.