Putins Provokation
Wer immer noch daran glauben möchte, dass mit der heutigen russischen Führung konstruktive Schritte zu einer Lösung des Konflikts in der Ukraine möglich sind, muss seit dieser Woche noch mehr Realitätsverweigerung betreiben als bisher. Drei Tage nach der Präsidentenwahl in der Ukraine hat der russische Präsident Wladimir Putin deutlich gemacht, dass er eine Entspannung zwischen Moskau und Kiew nicht wünscht. Denn anders kann sein am Mittwoch veröffentlichter Erlass nicht verstanden werden, der den Bewohnern der sogenannten "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk den Weg zu russischen Pässen erleichtert.
Eine besondere Art der Annexion
Putins Erlass ist eine Provokation. Denn er zielt darauf ab, die de facto ohnehin schon von Russland besetzten Gebiete in der Ostukraine noch deutlicher und dauerhafter vom ukrainischen Staat abzutrennen. Es ist eine besondere Art der Annexion: Offiziell erkennt der Kreml die Zugehörigkeit der Gebiete zur Ukraine zwar noch an - doch die dort lebenden Menschen werden Russland angegliedert.
Das ist eine weitere Schwächung des Abkommens zur Konfliktlösung, das im Februar 2015 unter Vermittlung Deutschlands und Frankreichs in Minsk vereinbart worden ist. Ernsthafte Anstalten zu seiner Verwirklichung hat der Kreml ohnehin nie gemacht. Aber die wenigstens formale Aufrechterhaltung des Minsker Kompromisses wäre trotzdem wichtig, weil er einer neuerlichen gewaltsamen Eskalation entgegensteht. Zudem bildet er einen Rahmen für ein Mindestmaß an humanitärer Kooperation im Kriegsgebiet.
In der Ukraine wird Putins Pass-Erlass als pseudorechtliche Vorbereitung auf einen offenen und nicht - wie bisher - verdeckten Einsatz der russischen Armee gegen die Ukraine verstanden. Denn schon einmal hat Russland den Schutz russischer Staatsbürger als Vorwand für einen Einmarsch in einem Nachbarland genutzt: 2008 in Georgien, nachdem in den Jahren zuvor massenhaft russische Pässe an die Einwohner der von Georgien abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien ausgegeben worden waren. Auch wenn der Kreml derzeit keine solchen Pläne haben sollte - allein die Tatsache, dass diese Möglichkeit nun im Raum steht, erhöht die Spannungen im Konfliktgebiet.
Bereits der zweite Affront gegen den neuen Präsidenten
Der Pass-Erlass ist nicht der erste Affront Moskaus gegen den künftigen ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Schon kurz vor der Stichwahl, als sein Sieg sicher war, hat der Kreml ein Exportverbot für russische Öl- und Ölprodukte in die Ukraine angeordnet. Das Land muss nun auf die Schnelle neue Bezugsquellen für mehr als dreißig Prozent seines Bedarfs finden. Hofft man im Kreml etwa, die Ukraine ins Chaos stürzen zu können, wenn der unerfahrene neue Mann übernimmt? Moskaus Verhalten lässt für die nächste Zukunft jedenfalls wenig Gutes ahnen. Umso wichtiger wäre es, dass die Ukrainer jetzt eine ordentliche Machtübergabe schaffen. Und dass der Westen seine Unterstützung für die Ukraine gerade in dieser kritischen Zeit verstärkt.